Prolog
Die Hohepriesterin beugte sich über die Wiege und besah sich den kleinen Prinzen. Das Licht der Morgensonne, das auf sein Kinderbett fiel, spielte mit seiner Magie und ließ rote, blaue und grüne Punkte auf seinem Gesicht tanzen. Mit diesen zartrosa Pausbacken, dem Halbmondmündchen und dem leisen Schnarchen wirkte er, als könnte er dieser Welt niemals Schaden zufügen. Doch sie hatte im Spiegel seine Zukunft gesehen. Genau wie sein Vater würde er nicht den Weißen Weg gehen. Er würde ein ebenso verwerfliches Leben führen, sich von seinen Farben leiten lassen und Estraora ins Elend stürzen, indem er den langen Winter beendete.
Das durfte sie nicht zulassen.
Sie legte die anderen beiden Jungen, die die Amme des Waisenhauses ihr vor einer Stunde übergeben hatte, mit in die breite Wiege. Es war im Grunde ein Akt der Barmherzigkeit, diesen zwei mittellosen und mäßig begabten Winterelfen ein Leben fernab von Hunger und Armut zu schenken.
Da alle Vorbereitungen getroffen waren, ging sie zur Tür, um die Winterelfe hereinzuwinken, die sie vor vielen Jahren unter ihre Fittiche genommen hatte. „Du kannst beginnen.“
Den Eiskristall vorsichtig in beiden Händen schlich das Mädchen zu der Kinderwiege. „Und Ihr seid wirklich sicher?“ Ihr Blick huschte nervös über die Neugeborenen.
„Wir haben das doch besprochen. Du weißt noch die Worte?“
Sie nickte fahrig und hielt den Kristall mit zitternden Fingern in den Sonnenschein, der auf die Kinder fiel. Herrlich reinweiße Magie sammelte sich in dem Prisma und schenkte ihr die Kraft, die sie für das Aussprechen des Fluchs benötigte. „Der Kristall fängt im Herzen dein Licht, das er mit aller Macht in seine Teile bricht. Ein Rot, das bei jedem Funken Wut erglüht, ein Grün, aus dessen Kern leicht Nähe erblüht, ein Blau, das flüchtiger ist als jeder Wind; Kräfte, die nicht länger nur die deinen sind.“ Die Elfe keuchte, als sich die unendliche Gewalt des Eiskristalls entfaltete. Vor Schreck ließ sie ihn in die Wiege fallen, doch der Zauber nahm bereits seinen Lauf. Der Stein riss die Magie des Prinzen an sich, spaltete seine Farben und verteilte sie auf die Kinder. Die dabei freigesetzte Kraft peitschte ihnen ins Gesicht und zerbarst die Scheiben, woraufhin eine angenehm trockene Kälte den Raum flutete.
Ein Grollen rollte über den Himmel, als würden die hohen Mächte ihre Zustimmung kundtun. Dann wehte Schnee durch die zerbrochenen Fenster in das Prinzengemach, rieselte sanft zu Boden und brachte die friedliche Stille des Winters mit sich.
Damit war es besiegelt. Der Prinz würde dem Land niemals Schaden zufügen.
„Was ist geschehen?“ Die Tür zum Kinderzimmer flog auf. Mit großen Schritten kam das neueste Mitglied ihres Rates auf sie zu. Die Augen der Novizin weiteten sich, als sie in die Wiege sah. „Wer sind diese Kinder?“
„Das sind die drei Prinzen.“
Sie blinzelte. „Aber … Die Königin hat heute nur einen Sohn geboren.“
„Wir werden das Volk etwas anderes glauben lassen. Von nun an sind diese drei Jungen unwiederbringlich miteinander verbunden.“
„Ihr … Ihr habt den Eiskristall eingesetzt, um den Thronfolger zu verfluchen?“ Ihre Glaubensschwester starrte von ihr zu dem Mädchen.
„Das war die beste Lösung. Der Prinz wäre zu mächtig geworden.“
„Der Stein wurde dafür geschaffen, Magie zu vereinen, und nicht, um sie zu spalten.“
„Stellt Ihr mein Handeln etwa infrage?“
„Nein. Das würde ich mir nicht anmaßen“, erwiderte die Novizin übereifrig und ihre Miene verschloss sich. Sowohl das zu schnelle Kopfschütteln als auch der panische Blick, der zwischen den winzigen Gesichtern hin und her sprang, straften ihre Worte Lügen. „Darf ich fragen, was ‚unwiederbringlich‘ bedeutet? Habt Ihr keine Möglichkeit festgelegt, wie der Zauber gebrochen werden kann?“
„Das habe ich nicht.“
„Bitte erlaubt mir anzumerken, dass der Stein seinen eigenen Gesetzen unterliegt. Sofern es keinen Weg gibt, diesen Fluch zu lösen, kann der Kristall nicht mehr benutzt werden.“
„Das ist mir bewusst. Der Vater des Prinzen zeigt uns gleichwohl tagtäglich, dass das Königshaus nicht über derart viel Macht verfügen sollte. Es ist besser, wenn die künftigen Könige nicht länger auf die Magie des Eiskristalls zugreifen können.“
„Damit wäre der Stein auch für uns verloren. Stellt Euch nur vor, zu welch großen Taten der Orden mit seiner Hilfe imstande wäre, sobald die Zeit reif ist.“ Sie sah scheu zu ihr auf, die Hohepriesterin erkannte aber die Berechnung in ihren Augen. Diese Novizin würde es zu etwas bringen, so viel war sicher. „Euer Rat wird Schwierigkeiten haben, diese Entscheidung nachzuvollziehen.“ Ihre offenkundige Drohung schwächte sie mit einem unterwürfigen Blick ab. Bestimmt würde sie den anderen Novizinnen höchstpersönlich von den heutigen Geschehnissen berichten.
Zwar war die Hohepriesterin nicht auf die Gunst ihres Rates angewiesen, doch eine von ihnen würde irgendwann an ihre Stelle treten und die Kräfteverhältnisse würden sich verschieben. „Vielleicht habt Ihr recht.“ Nachdenklich tippte sie sich mit dem Zeigefinger ans Kinn, dann bedeutete sie dem Mädchen, den Kristall aufs Neue an sich zu nehmen und ins Licht zu halten. „Sprich mir nach.“
Die Winterelfe tat wie geheißen und während sie die Worte wiederholte, verwandelte der Edelstein die Sonnenstrahlen in ein blendend weißes Licht. Aus dieser Kraft wob er das winzig kleine Schlupfloch, wie der Fluch gebrochen werden konnte.
Gemächlich drehte sich die Hohepriesterin zu ihrer Novizin um. „Zufrieden?“
Die Lippen ihrer Glaubensschwester bebten. „Niemand kann all diese Bedingungen erfüllen. Ausgeschlossen.“
Ein kaum merkliches Lächeln schlich sich in die Mundwinkel der Hohepriesterin. „Ihr habt auf einen Ausweg bestanden, und ich bin Eurem Wunsch nachgekommen.“
Nach einem tiefen Atemzug richtete sich die Novizin kerzengerade auf und sah erneut hinab in die Wiege. „Wer von den dreien ist der wahre Prinz?“
„Das“, die Hohepriesterin wandte sich zum Gehen, „spielt von nun an keine Rolle mehr.“
Kapitel 1
Rote Wesen sind am schwierigsten zu bändigen. Ihre Kraft schöpft sich aus hingebungsvoller Leidenschaft und dem Drang nach Abenteuern, aber auch aus Wut, die wie ein Raubtier um sich beißt, wenn man ihr zu nahe kommt.
Auszug aus den Weißen Schriften
Kapitel 1: Lehre der Farben, Absatz 2 – Rot
Feuer brach aus Eyras Händen und sie formte mit den Flammen einen brennenden Zylinder, der an der Krempe goldgelb glühte. Aus der Hutmitte ließ sie Funken emporstieben und verband sie zu der Form eines Kaninchens. Das glühende Tierchen hüpfte in die Luft und zerbarst in einem Funkenregen.
Vereinzelter Applaus erklang und Eyra erkannte hinter der flimmernden Luft, dass einige Passanten stehen geblieben waren. Also setzte sie zu dem Kunststück an, mit dem sie ihre Zuschauer für gewöhnlich am meisten beeindruckte. Sie verdichtete den kläglichen Rest der Hitze, der nach dem langen Arbeitstag noch in ihrem Bauch brannte, und leitete sie in ihre Finger, um eine Feuerwand vor sich zu ziehen. Mit etwas Anlauf schlug sie einen Salto durch den Flammenwall, der daraufhin versiegte, und kam direkt vor zwei Winterelfen auf dem Boden auf.
Schnell trat Eyra zurück und nickte einem älteren Gnom zu, der eine Kupfermünze in ihren viel zu leeren Hut warf und weiterzog. Normalerweise war die Sentergasse der perfekte Standort für Gaukler, denn wegen der zahlreichen Schenken herrschte hier Tag wie Nacht reges Treiben. In diesem Sündenpfuhl, in dem die Besucher nach wie vor feierten und die Farben leuchteten, saß das Geld ein bisschen lockerer. Außerdem war sie früh gekommen, um die Ecke zwischen dem Alten Hahn und dem Schwarzen Raben zu besetzen. Aufgrund des besonders harten Winters eilten die Kneipenbesucher aber nur noch durch die Straßen und das ohnehin knappe Geld wurde eher für warmen Honigwein ausgegeben als für die Darbietung einer Gauklerin. Sie konnte es den Leuten nicht verdenken.
Ihre Zuschauer zerstreuten sich, doch die zwei Winterelfen blieben zurück. Im Augenwinkel verfolgte Eyra, wie sich der Taschenspieler zu ihrer Linken sang- und klanglos verzog. Sie würde aber nicht vor den beiden Eisklötzen flüchten.
An ihren pelzbesetzten Mänteln, dem sauber getrimmten Haar und den polierten Stiefeln erkannte sie, dass sie aus einem Edelquartier kamen. Wie man es von ihrer Art kannte, strahlten sie nichts als unterkühlte Ausgeglichenheit aus, was es schwer machte, ihre Absichten einzuschätzen. Warteten sie auf ein weiteres Kunststück oder dachten sie darüber nach, sie bei der Weißen Garde anzuprangern, da sie ihre Feuermagie so offen zur Schau stellte? In beiden Fällen war es wohl besser, freundlich zu sein. Waren sie tatsächlich fürs Vergnügen hier, durfte sie sich die Chance auf ein Silber nicht entgehen lassen. Wollten die zwei sie verpfeifen, konnte Eyra sie vielleicht mit ein wenig Charme davon abhalten. „Eine Extravorstellung gefällig?“ Der neckische Tonfall kostete sie einiges an Überwindung. Sie zwang sich zu einem Lächeln, während ihre Magie anschwoll und in ihrem Bauch kitzelte. Wie immer fraß sich die Wut beim Anblick von Winterelfen wie ein Schwelbrand durch ihre Adern und entfachte die Glut in ihrem Inneren.
Der Schmalere der Männer trat näher. „Dann zeigt uns, was Ihr könnt.“
Am liebsten hätte Eyra das brennende Abbild des königlichen Palastes in die Luft gemalt. Das würde ihr einen Moment der Genugtuung bescheren, davon wurde sie allerdings auch nicht satter. Also sammelte sie ihre Hitze und zeichnete mit einem Feuerstrahl verschiedene Kartensymbole in den platt getretenen Schnee zu ihren Füßen. Unter dem Herz, Karo, Pik und Kreuz kam der graue Pflasterstein zum Vorschein, der seit vielen Jahrhunderten von einer dicken Schneeschicht verdeckt wurde.
Die Winterelfen verzogen keine Miene, weshalb Eyra beschloss, eine Schippe draufzulegen. Sie hob die Hände und verwandelte die Luft in ein wortwörtliches Flammenmeer, indem sie dem Feuer die Form von Wellen gab, die über die Köpfe der Passanten hinwegbrandeten. Als ihre Magie sich dem Ende neigte, senkte sie die Arme und reckte ihr Kinn. „Zufrieden mit der Vorstellung?“
„Das war beachtlich.“ Der Elf, der sie zum Fortfahren aufgefordert hatte, legte den Kopf schief. „Wie bewahrt Ihr bei dieser Kälte Euer Feuer?“ Der Ansatz eines Lächelns lag auf seinen Lippen, was Eyra irritierte. Winterelfen lächelten nicht. Niemals. Doch gewöhnliche Winterelfen verirrten sich auch nicht in die Sentergasse, um sich zu amüsieren. In diesem verrückten Viertel suchten die Gäste alles, aber gewiss keine Ruhe und Ausgeglichenheit, wonach ihresgleichen so sehr strebten. Hier ging es um wildes Vergnügen, um grenzenlose Freiheit, um die kleine oder ganz große Liebe … schlicht ums Leben. Von alledem hatten Winterelfen keine Ahnung.
Als hätte er ihre Verwirrung bemerkt, wich seine Belustigung abrupt einem nüchternen Ausdruck. Wahrscheinlich würde er sofort nach Hause eilen und Buße tun, weil er sich zu ein bisschen Freude hatte hinreißen lassen.
„Ich trage genug Hitze in mir, um Euren Winter zu überleben.“ Zwar war sie um einen sachlichen Tonfall bemüht, ganz konnte sie den Trotz in ihrer Stimme allerdings nicht bändigen.
Erneut schmunzelte er. „Und womit entfacht Ihr diese Hitze, Feuermädchen?“
Machte er sich über sie lustig? Eyra ballte die Hände zu Fäusten. Ach, zum Teufel mit der Freundlichkeit. „Die Wut über das Leid, das die Euren über dieses Land gebracht haben, schürt mein Feuer hinreichend, um zurechtzukommen“, zischte sie auf die Gefahr hin, von den beiden doch noch an die Weiße Garde verpfiffen zu werden. Zumindest hatte sie sich mit dieser gepfefferten Antwort das erhoffte Silber verspielt. Sie würde ihre Aufsässigkeit bitter bereuen, wenn sie und ihr Bruder am Abend vor leeren Tellern saßen, in diesem Moment bescherten ihr die Worte aber ein wohliges Gefühl im Magen. Dabei entsprachen sie nicht einmal der Wahrheit. Ja, ihr Zorn nährte die Magie, doch sie brauchte ein Kaminfeuer am Abend, um wieder zu Kräften zu kommen.
„Wut ist kein guter Wegbegleiter“, erwiderte der Kerl unbekümmert und schielte zur Seite, als würde er ebenso seinen Kameraden belehren. Oder waren sie Brüder? Im Grunde sahen alle Elfen des Winters ähnlich aus: dieselbe helle Haut, die an glitzernden Raureif erinnerte, ebenmäßige Züge, spitze Ohren, silberweißes Haar und Augen so graublau und kalt wie ein eingefrorener Bergsee.
Sie streckte den Rücken durch. „Zorn ist für viele von uns das Letzte, das von unserer Leidenschaft übrig bleibt.“
Der eine Elf hatte Eyra mit seinem Lächeln überrascht, der Größere der beiden erstaunte sie nun mit seiner schlagartig finsteren Miene. Bislang hatte sie nur Winterelfen getroffen, die ihre innere Ruhe mit Stolz nach außen trugen. Dieses Exemplar regte sich aber eindeutig über ihre Antwort auf, was Eyra zu einem breiten Grinsen verleitete.
Für einen Moment verhakten sich ihre Blicke ineinander und wo in den Augen seiner Artgenossen normalerweise nichts als Kälte zu finden war, blitzte bei ihm ein Hauch von Verdrossenheit auf. „Wir gehen.“ Knurrend stapfte er durch den Schnee davon – natürlich, ohne eine Münze für ihre Darbietung dazulassen.
Sein Begleiter schaute ihm hinterher, sah zu ihr und wieder zurück. Letztlich zuckte er mit den Achseln und eilte ihm nach. Damit war sie dahin, ihre Chance auf ein wenig Brennholz und ein Abendessen. Wie es aussah, musste sie sich das Geld also auf unliebsamere Weise besorgen.
Eine junge Sonnenelfe mit roten Apfelbäckchen zog ihre Aufmerksamkeit von den Winterelfen fort. Sie patschte mit ihren dicken Stiefeln in die herzförmige Pfütze, die Eyra bei ihrem Spektakel in das Eis gebrannt hatte. Diese war schon fast zugefroren.
Eyra lockte erneut ihr Feuer herbei, das nunmehr schwach in ihrem Herzen glomm. Sie hatte sich bereits am Morgen verausgabt, in der Hoffnung, gegen Mittag genug verdient zu haben, um Zeit mit Naran verbringen zu können. Ihr jüngerer Bruder bedurfte dringenderer Aufheiterung als dieses Mädchen hier. Da die kindliche Freude der Kleinen ihr aber ein seltenes ehrliches Lächeln entlockte, taute Eyra eine andere Stelle auf.
Die Sonnenelfe quietschte vergnügt, kniete sich nieder und planschte mit den Fingern in der Wasserlache.
„Es ist so schön warm“, stieß sie aus und eine helle Farbaura hüllte sie ein. Viele verloren beim Älterwerden die Farben ihrer Magie und Eyra hoffte, diese Sonnenelfe würde so für ihr goldgelbes Licht kämpfen wie sie für das Rot ihres Feuers.
Die kleine Elfe legte ihren Kopf in den Nacken. „Dir ist bestimmt nie kalt, oder?“
Eyra ging in die Hocke und stupste sie auf die Nase. Dabei ließ sie ein kreisrundes Rauchwölkchen aufpuffen.
Das Mädchen schreckte erst zusammen, ehe es kicherte.
„Ich friere fürchterlich. Die ganze Zeit.“ Feuerwesen ertrugen den Winter wahrscheinlich am schlechtesten.
„Warum machst du es dir nicht mit deinem Feuer warm?“
„Brennholz ist knapp und meine Magie ist irgendwann erschöpft.“
Die Kleine kniff Augen und Lippen zusammen, während sie überlegte. „Dann musst du in die Sonne.“
„So funktioniert das bei dir. Mir hilft ein Kaminfeuer.“ Was sie daran erinnerte, dass ihr Geld höchstens für ein bisschen Reisig reichen würde.
„Marie!“, schrie eine Frauenstimme.
„Mama …“
„Weg von dieser Frau! Ihresgleichen macht nur Ärger. Merk dir das.“ Ihre Mutter, die aus einem Geschäft gekommen war, zerrte sie von Eyra fort.
„Sie war sehr nett.“ Im Gehen sah Marie über ihre Schulter und zwinkerte Eyra zu, was diese postwendend erwiderte.
„Halte deine Magie bei dir!“ Ihre Mutter zeterte weiter, woraufhin die Kleine ihren Sonnenschein in sich verschloss. „Wenn die Weiße Garde kommt …“ Der Rest ihres Vortrags ging im Rattern von Kutschenrädern unter. Eyra konnte sich ohnehin denken, wie er weiterging. Die Garde duldete keine Zurschaustellung von Magie. Alle sollten sich ruhig und unauffällig verhalten. Und ganz sicher wollte sich keiner mit den Wächtern des Ordens anlegen.
Eyra fischte ihren Wollhut vom Boden, zählte die wenigen Taler und steckte sie in die Tasche ihres Mantels. Mit einem tiefen Seufzen steuerte sie den schmaleren Teil der Gasse an. Vor dem Krämerladen stand eine lange Schlange und versperrte den Passanten den Weg, was zu einem wilden Gedränge führte. Die Leute vor dem Geschäft hingegen warteten gesittet in Reih und Glied. Im Gegensatz zu den Besuchern der Schenken kamen sie nicht hierher, um sich zu amüsieren. Sie wollten eine der Kuriositäten oder seltene Kräuter erstehen, die es nur in der Sentergasse zu kaufen gab. Demnach kehrte niemand seine Magie nach außen, keiner unterhielt sich angeregt oder wagte es, gar zu lachen. Wie im Rest der Stadt redeten sie leise und schmunzelten allenfalls hinter vorgehaltener Hand.
Eyra bestahl einzig und allein jene, die den Verlust einiger Münzen nicht einmal bemerkten, deswegen sah sie sich nach teuren Pelzmänteln um. Ihr Blick wanderte über die Menge und blieb bei dem Winterelfen hängen, der sie belächelt hatte. Wie es aussah, erledigte er das mit der Buße später, denn er lehnte mit überschlagenen Beinen an einer Hauswand und beobachtete das Treiben.
Jedes Mal, wenn eine absonderliche Gestalt an ihm vorbeilief, wurden seine Augen kugelrund. Mit unverhohlener Faszination betrachtete er einen Waldgnom, der dem Met etwas früher hätte entsagen sollen, ein Feenpaar, das … nun ja, seine Zuneigung recht unverblümt zeigte, und eine Horde junger Waldelfen, die neben ihm aus einer Schenke traten und wild gestikulierend durcheinandergrölten.
Eyra überlegte kurz, ob sie seine Ablenkung für sich nutzen und ihn um die ein oder andere Münze erleichtern sollte. Da er jedoch abseits der Menge stand, verwarf sie den Gedanken und verlagerte ihre Suche auf das Gedränge vor dem Laden. Dort entdeckte sie eine Sonnenelfe, für deren Pelzumhang mehr als ein Nerz sein Leben hatte lassen müssen. Auch der mit Kristallen besetzte Kragen ließ keinen Zweifel daran, dass sie die Richtige gefunden hatte.
Eyra prüfte den bewölkten Himmel. Zwar hielt sich ein Trupp der Weißen Garde stets in der Nähe der Sentergasse auf, es war aber kein Schnee zu erkennen, der die Gesetzeshüter ankündigte.
Wo Eyra sonst um die Aufmerksamkeit der Leute buhlte, versuchte sie jetzt, möglichst unsichtbar zu werden. Sie wickelte ihre leuchtend roten Locken zu einem dicken Knoten zusammen und schob ihn in den Nacken, ehe sie ihre Kapuze überstülpte und tief ins Gesicht zog. Den Kopf gesenkt, trat sie in das Getümmel und rempelte wie zufällig die betuchte Dame an. Sie murmelte eine Entschuldigung und ließ ihre Hand in deren Tasche gleiten. Dort bekam sie ein schweres Säckchen zu fassen. Wäre sie auf ein paar lose Münzen gestoßen, hätte sie nur zwei oder drei herausgenommen. So musste sie binnen einer Sekunde entscheiden, ob sie alles oder gar nichts nahm. Sie entschied sich für alles und drängte weiter durch die Menge. Den Beutel stopfte sie durch ein Loch in ihrer Manteltasche in das Innenfutter.
Mit gemächlichen Schritten, damit die Münzen nicht klimperten, ließ sie die Menschenansammlung hinter sich und schlenderte auf eine Seitengasse zu. Gerade als sie dachte, wie einfach es war, Unrecht zu tun, während ein ganzer Tag harter Arbeit nicht zum Überleben reichte, erklang ein spitzer Schrei. „Ein Dieb. Ich wurde bestohlen. Hilfe!“
Eyra wirbelte herum und legte einen gespielt verwunderten Gesichtsausdruck auf. Die Leute sahen sich um, als könnten sie den Ganoven Macht ihres Blickes enttarnen, und sie tat es ihnen gleich. Ein leiser Stimmenteppich erhob sich, nicht mehr als ein gedämpftes Getuschel. Es kam Bewegung in die Menge, da alle ihre Taschen abklopften, sicherlich in der Hoffnung, dem Dieb entgangen zu sein.
Eyra wandte sich wieder ab … und lief direkt in ein Schneegestöber. Eisige Kälte drängte unter ihren Mantel, kroch in ihre Glieder und legte sich über ihr hitziges Gemüt. Dennoch wich sie nicht zurück, sondern ging weiter.
Vorsichtig tastete sie sich an einer Hauswand entlang. Das dicht fallende Weiß machte es ihr schwer, sich zu orientieren, doch mit ein bisschen Glück würde die Weiße Garde sie in ihrem eigenen Schneetreiben nicht entdecken. Allzu weit kam sie allerdings nicht, denn der kalte Sturm zog sich tiefer in die Gasse zurück und ein sechsköpfiger Trupp aus Winterelfen versperrte ihr den Weg. Dicke Flocken tanzten um ihre fellbesetzten Lederrüstungen und trotz ihrer unbeteiligten Mienen wohnte ihren Augen eine Aufmerksamkeit inne, die niemand auf sich ziehen wollte.
„Hiergeblieben!“, rief der Wächter, der den silbernen Schulterklappen nach der Hauptmann war.
Eyra schnaubte leise.
Puderschnee stob um seine Stiefel, als der Winterelf zu ihr aufschloss. Er zog sein Schwert, richtete es auf sie und hob ihre Kapuze mit der Spitze an. Wachsam musterte er ihr rotes Haar und ihr von Sommersprossen übersätes Gesicht. „Ein Feuermädchen.“
Flüssige Lava pulsierte durch ihre Adern, schoss in ihre Fingerspitzen und belebte jede Faser ihres Körpers. Obgleich Eyra wusste, in welchen Schlamassel sie sich hineinmanövriert hatte, kam sie nicht umhin, dieses Gefühl auszukosten. Würde sie erwischt, endete sie bei der Länge ihres Vorstrafenregisters endgültig am Galgen. Und doch bereitete es ihr Genugtuung, der Wirkung des Schnees standhalten zu können. „Ich muss nach Hause zu meinem Bruder. Er ist krank.“ Eyra verneigte sich demütig, während alles in ihr danach dürstete, ihm die pelzbesetzte Mütze zu versengen.
„Wetten, die hier war es?“ Ein anderer Wächter maß sie mit undurchdringlichem Blick.
„Bestimmt hat sie das Geld genommen“, schrie ein Mann aus der Menge und einige der Umstehenden fielen mit ein. Gern hätte sie ihm eine saftige Antwort gegeben, doch sie hatte das Recht verwirkt, ihm seine Vorurteile vorzuhalten, denn sie stimmten in diesem Fall nun einmal.
„Ruhe.“ Die Stimme des Hauptmanns war betont beherrscht. Er schwang seine Hände im Halbkreis und seine weiße Magie verwandelte sich in dicke Flocken, die langsam vom Himmel rieselten. Sie ließen sich auf den Dächern nieder, die unter dem Druck der Schneemassen bereits ächzten, und landeten auf der Kleidung der Stadtbewohner, wie um die letzten Farbtupfer aus der Welt zu tilgen. Dort machte die Kälte aber nicht halt. Sie drang bis in die Seelen der Leute und begrub jede noch so kleine Empfindung unter einer meterdicken Eisschicht. Magie war Farbe und Farbe war Gefühl, doch der Schnee ließ alles weiß und nüchtern werden.
Eine teilnahmslose Leere trat auf die Gesichter der Menschen, Eyras Feuer dagegen brannte weiter, genährt von ihrer Wut, die sich immer dann am meisten aufbäumte, wenn man sie ihr nehmen wollte. Anstatt diese nach außen zu kehren und sich in umso größere Schwierigkeiten zu bringen, verwandelte sie ihre innere Hitze in Magie. Diese machte sie sich zunutze, um den Zauber auf ihrem Mantel zu aktivieren. Sogleich schloss sich das Loch, durch das sie die Münzen geschoben hatte. Jahre zuvor hatte Eyra viel Geld bei einem Straßenmagier liegen lassen, der ihren Mantel mit einem Zauber versehen hatte. Dieser verbarg nicht nur die Öffnung, er ließ auch alle Gegenstände im Innenfutter schrumpfen, bis sie sie wieder hervorholte. Diese Investition hatte sich längst gerechnet. „Ich habe nichts gestohlen.“
Die weißen Wächter traten näher, die Hände auf die Griffe ihrer Schwerter gelegt.
„Gib mir deinen Mantel.“
Eyra kam der Forderung des Hauptmanns nach. Eisige Kälte umfing sie und sie biss die klappernden Zähne zusammen.
Während er die Taschen kontrollierte, klopfte ein anderer sie ab. Zwar klimperte es leise, aber von dem hellen Klang der verkleinerten Münzen schloss der Hauptmann offenkundig nicht auf das Diebesgut. „Ich habe nichts gefunden“, sagte der andere Wächter zu seinem Vorsteher, der ihr den Mantel wieder aushändigte.
„Du kannst gehen.“
Eyra wusste, es wäre klüger, nicht zu grinsen, dieses kleine Eingeständnis an ihren Drang nach Ungehorsam konnte sie sich trotzdem nicht verkneifen. „Einen schönen Tag noch.“ Sie streifte ihren Wollmantel über und eilte davon, hinein in die dichte Schneewand, die sie sogleich verschluckte. Ein eiskalter Wind blies ihr um die Ohren und Eyra rannte, um sich warm zu halten.
Ihr Trotz begehrte gegen die Wirkung des Schnees auf, gegen diese Gleichgültigkeit, die ihr jede Empfindung entreißen wollte. Sie beschleunigte ihr Tempo und dachte an ihre Beute. Die Gewissheit, für ein paar Tage über die Runden zu kommen, nahm ihr für den Moment alle Sorgen und ließ diese innere Leere unter der Wärme ihrer Zufriedenheit dahinschmelzen.
Eyra lehnte sich an eine Steinmauer und ein Lachen brach aus ihr hervor. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, während sich ein paar Funken von ihren Fingerspitzen lösten und zischend in das Eis zu ihren Füßen gruben. Die Schneeflocken um sie herum verdampften in der Hitze, die sie ausstrahlte. Aber nicht nur ihre rote Magie brannte in ihr. Befreit von aller Last, durchfuhr sie ein Hauch von Freiheit, und wie ein Windstoß trug dieses Gefühl alle Zwänge und Pflichten davon. Eine Aura aus himmelblauen Schlieren hüllte sie ein und ließ ihre Seele zu der Vorstellung fliegen, einen unbeschwerten Abend mit Naran zu verleben. Ihre Vorfreude auf ihren Bruder wuchs und tauchte sie zudem in grünes Licht. Nur ein sorgloser Abend und danach … ja, was käme danach? Vielleicht ein paar weitere unbekümmerte Tage, doch das Geld würde nicht ewig reichen. Dieser Gedanke genügte, um ihren blauen und grünen Kräften den Garaus zu machen.
Eyra fuhr sich über das Gesicht und stieß sich von der Mauer ab, da knirschten schwere Schritte im Schnee.
„Hier seid Ihr.“ Die Männerstimme kam ihr entfernt bekannt vor.
Das Schneegestöber zog sich zurück und gab die Sicht auf den zuvor lächelnden Winterelfen frei, der nun wieder nüchtern dreinschaute.
„Was macht Ihr hier?“ Sie verschloss ihre Magie fest in sich und hoffte, dass er sie nicht gesehen hatte. Ein Feuermädchen, das nicht nur über rote, sondern auch über blaue und grüne Magie verfügte, warf Fragen auf. Fragen, die sie nicht beantworten konnte.
Seine Mundwinkel neigten sich nach oben und verrieten Belustigung.
Normalerweise konnte Eyra dem Aussehen von Winterelfen nichts abgewinnen. Sie mochten schön sein, für Eyra zählte jedoch das Leben, das in einem Gesicht steckte, viel mehr als ebenmäßige Züge und eine makellose Haut. Sie bevorzugte Falten, die eine Geschichte erzählten, Augen, die beim Erzählen leuchteten, und eine bewegte Miene, die jedes gesagte Wort unterstrich. Nichts dergleichen beobachtete man für gewöhnlich bei Winterelfen. Sie musste aber neidlos anerkennen, dass selbst ein winziges Lächeln bei diesem Eisklotz einen atemberaubenden Anblick bot.
„Ich habe gesehen, wie Ihr das Geld genommen habt.“
Eyras Hochgefühl fiel vollends in sich zusammen. „Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr redet.“
Der Kerl war zwar der Kleinere der beiden Winterelfen, die ihrer Vorführung beigewohnt hatten, jetzt, wo er sich mit seiner vollen Größe vor ihr aufbaute, wirkte er dennoch recht imposant. Das Ausmaß seiner Magie wusste sie nicht einzuschätzen, körperlich wäre er ihr aber um Längen überlegen.
„Oh, das wisst Ihr ganz genau.“
Wenn er sich so sicher war, warum hatte er sie dann nicht bei der Weißen Garde verraten? Hatte er vor, ihr das Geld abzunehmen? Bei seinem piekfeinen Äußeren konnte sie sich das kaum vorstellen. „Was wollt Ihr von mir?“
„Ich würde gern Euren Namen erfahren.“
„Weshalb?“
„Ich möchte Euch Eure Beute nicht streitig machen, sollte das Eure Sorge sein. Mich interessiert lediglich der Name der Drachenreiterin, die mit so viel Magie gesegnet ist.“
Drachenreiterin. So wurden ihre Vorfahren genannt. Heute war sie ein Feuermädchen, ein Feuerteufel, eine Brandstifterin, roter Abschaum oder wohlwollend eine Feuermagierin. Offensichtlich wollte er sich bei ihr einschmeicheln, auch wenn sie nicht verstand, warum. „Wie kommt Ihr darauf, ich sei mit viel Magie gesegnet?“
„Eure Vorstellung war bemerkenswert. Außerdem habt Ihr Euch gegen die Wirkung des Schnees behauptet. Ich hörte Euch lachen und Ihr wart sogar in der Lage, inmitten des Schneefalls ein paar Funken zu Euch zu rufen.“
Wie es aussah, war Leugnen zwecklos. Zumindest schien er nichts von ihrer andersfarbigen Magie mitbekommen zu haben, andernfalls hätte er sie sicher darauf angesprochen.
„Und was stellt Ihr dann mit meinem Namen an?“ Bei ihrem Glück würde er doch zur Weißen Garde rennen und sie anschwärzen.
„Vielleicht möchte ich Euch ja zu einem Ball einladen?“ Dieser leichte Singsang in seinen Worten irritierte sie genauso wie deren Inhalt.
Eyra runzelte die Stirn. „Ein Winterelf, der Scherze macht. Hat man so etwas schon gesehen?“ Dieser Elf war anders. So viel hatte sie begriffen. Sie würde sich von ihm aber nicht einwickeln lassen. Seinesgleichen hatte den Winter über den Süden gebracht, der einst den Feuerwesen gehört hatte. Keinem von ihnen war zu trauen.
„Was, wenn ich nicht scherze?“ Er schaute sie nun wieder auf diese vollkommen undurchschaubare Winterelfen-Weise an.
„Ich war noch nie auf einem Ball und habe auch nicht vor, das zu ändern.“
„Jede Frau sollte einmal in ihrem Leben eine solche Festivität besuchen.“ Festivität. Soso. Ja, dieser Kerl kam eindeutig aus gehobenen Kreisen.
Eyra sah an sich hinab, über den ausgefransten Saum ihres Wollrocks hinweg zu ihren zerschrammten Stiefeln. „Wenn Ihr Eure ‚Festivität‘ mit einer kleinen Sehenswürdigkeit bereichern wollt, dann sucht Euch ein anderes mittelloses Mädchen.“
„Diese steifen Veranstaltungen bedürften in der Tat ein bisschen Auflockerung.“
War er womöglich überhaupt erst in die Sentergasse gekommen, um jemanden für dieses Vorhaben auszuwählen? „Wie ich sagte, sucht Euch eine andere. Ich muss los.“ Naran war schon seit Stunden zu Hause. Nicht dass er sehnsuchtsvoll auf sie wartete, sie wollte aber bei ihm sein.
Eyra wandte sich zum Gehen, lief nach zwei Metern jedoch gegen eine grün schimmernde Wand, die trotz ihrer ätherischen Erscheinung undurchdringbar war. Damit hätte sich zumindest die Frage geklärt, wer von ihnen beiden über mehr Magie verfügte. Sie konnte Hitze erzeugen, er Kälte. Diese Art von Magie lag ihnen im Blut und war mit wenig Anstrengung verbunden. Für jeden Zauber, der darüber hinausging, musste man über enorme Kräfte verfügen. Und für einen solch komplexen wie diesen hier brauchte es obendrein viel Übung und einen guten Lehrmeister.
Der Kerl trat hinter sie, so dicht, dass seine grüne Magie sie einhüllte. Winterelfen konnten mit Farben zaubern, das wusste sie, dennoch war sie erstaunt. In der Öffentlichkeit waren sie für gewöhnlich darauf bedacht, einzig weiße Magie zu zeigen. Kaum zu Ende gedacht, versank dieser Gedanke in einem Nebel aus Wohlempfinden. „Ihr habt mir noch immer nicht Euren Namen gesagt“, raunte er nahe ihrem Ohr. Ein Schauer rieselte ihr Rückgrat hinab, fröstelnd und doch auf sonderbare Weise angenehm.
„Eyra“, flüsterte sie.
„Wie weiter?“, fragte er beschwörend.
Ihre eigene grüne Magie streckte sich nach ihm aus. Ehe sie aus ihr herausströmte, rief Eyra sich aber zur Besinnung. Ihr Kopf wurde zunehmend klar und ihre Entrüstung brach ungehemmt über sie herein. Grün stand für Vertrautheit, für Nähe, für ein Gefühl, das der Familie und besten Freunden vorbehalten war. Sie auf diese Weise zu manipulieren, war unerhört!
Dunkelrote Wut kämpfte den Rest dieser trügerischen Verbundenheit nieder. Ruckartig drehte sie sich zu dem Elfen um und stellte überrascht fest, dass er nicht so nah hinter ihr stand, wie sie angenommen hatte. Trotzdem wich sie so weit zurück, wie es die Wand in ihrem Rücken zuließ. „Das werde ich Euch nicht verraten.“
Sein rechter Mundwinkel hob sich erneut. „Ich lag also richtig. Da Ihr Euch sogar gegen mich behaupten könnt, müsst Ihr über außerordentlich viel Magie verfügen.“
„Ihr seid ziemlich von Euch eingenommen, wenn Ihr jedem, der sich Eurer Magie zu entziehen vermag, viel Kraft zusagt.“
„Das hat nichts mit einem übersteigerten Selbstbewusstsein zu tun, sondern mit Erfahrungswerten.“
Wie selbstverliebt konnte man sein? „Ich werde jetzt gehen.“
„Sobald ich Euren Nachnamen herausbekomme, schicke ich Euch eine Einladung.“
„Macht das nur.“ Selbst wenn es ihm gelingen sollte – wovon sie nicht ausging, denn sein Optimismus war sicherlich ebenfalls auf seine Selbstüberschätzung zurückzuführen –, eine Einladung konnte man ablehnen.
Der Widerstand in ihrem Rücken verpuffte und sie stolperte rückwärts. Der Elf schnellte gerade rechtzeitig vor und hielt sie an den Schultern fest, bevor sie unsanft auf ihrem Hintern landete. Eyra wollte ihn abwehren, doch er ließ sie bereits los.
Eilig trat sie von ihm weg.
„Ich hoffe, das Geld bringt Euch eine Weile über die Runden.“ Er wies auf ihre Manteltasche, in der sie das Säckchen Münzen hatte verschwinden lassen.
„Es muss nicht nur für mich reichen“, antwortete sie leichthin, was vermutlich einem Nachhall dieser ergaunerten Vertrautheit zuzuschreiben war. Leise grummelte sie über sich selbst.
„Ihr müsst jemanden versorgen?“
„Das geht Euch nichts an.“ Bevor sie versehentlich weitere Informationen preisgab, machte sie kehrt und eilte davon.
Ihre Schritte waren die einzigen, die im Schnee knarzten. Bis sie die Häuserecke erreicht hatte, stach sein Blick aber in ihren Rücken.
Kapitel 2
Jede Farbe ist von Sehnsüchten geprägt. Die Grünen suchen Nähe, die Blauen Freiheit und die Roten wollen ihr Recht erkämpfen. Doch so leuchtend hell eine Farbe auch erblüht, sie ist nie gegen die Kraft von Weiß gefeit. Denn wer weiße Magie beherrscht, der will nichts mehr. Der ist einfach nur.
Auszug aus den Weißen Schriften
Kapitel 1: Lehre der Farben, Absatz 1 – Grundlagen
Eyra stapfte auf dem Heimweg durch den knöchelhohen Neuschnee, der den Redensmarkt bedeckte. Hier in Calor gab es kaum mehr dunkle Ecken, der Winter hatte sie alle mit glitzerndem Puderzucker bestäubt und in die kitschige Kulisse einer verzauberten Schneekugel verwandelt. Wenn sich irgendwo etwas Hässliches auftat, ließ die Garde einfach einen Schwung ihrer hübschen Flöckchen durch die Luft wirbeln und begrub alles Unansehnliche unter der erdrückend weißen Schicht. In dieser Gegend der Stadt konnte es jedoch noch so viel schneien, die wilde Entschlossenheit und die kriminellen Energien der Leute, die sich hier tummelten, ließen sich nicht unterdrücken. Auf dem Platz des Drachen, wie man den Redensmarkt inoffiziell auch nannte, hatte jeder niedergekämpfte Widerstand seinen Ursprung gefunden, die Händler feilschten mit ihren Kunden um verbotene Waren und trotz der Mittellosigkeit hatten viele Bewohner ihre Fassaden farbig getüncht – ein Aufbegehren gegen das überall vorherrschende Weiß. Eyra war stolz, in einem dieser Häuser zu wohnen, selbst wenn sie sich nicht am Roten Zug, der größten Gruppierung, die gegen das Königshaus aufbegehrte, beteiligte.
Sie grüßte den Schmied, der über der Theke mit Werkzeugen und unter der Hand mit Wurfmessern handelte. Der Blumenhändler, der seine Pflanzen aus dem Ausland bezog, warf ihr eine Kusshand zu und versuchte sie in ein Gespräch zu verwickeln. Anstatt darauf einzugehen, huschte sie mit einem entschuldigenden Lächeln weiter zum Holzhändler, bei dem sie nicht wie sonst ein wenig Reisig, sondern gleich ein ganzes Bündel Scheite kaufte. Danach zwängte sie sich zwischen den eng stehenden Buden, die um das Drachenmahnmal in der Mitte des Platzes herumstanden, hindurch.
Eyra beäugte den Drachen, der in einer Kampfespose eingefroren war: auf seine massiven Hinterbeine gestellt, die Krallen in den Schnee gerammt, die Brust geschwollen, als hole er Luft für seinen Feueratem. Seine gespreizten Flügel erweckten den Eindruck, er würde jeden Moment abheben. Doch er hob nicht ab, schon sehr viele Jahrhunderte nicht mehr. Dieses Wesen war nur noch eine Erinnerung an eine frühere Zeit. Und eine Ermahnung, niemals die Übermacht des Königshauses zu unterschätzen.
Trotz der dicken Eisschichten, die ihn gefangen hielten, ließen sich die glänzenden Schuppen erahnen, genauso wie die tödliche Gewalt der Muskelberge, die dennoch dem unnachgiebigen Griff des Eises erlegen waren. Die geschlitzten roten Augen stachen wie glühende Punkte hervor, als würde sich ihre gebündelte Hitze gleich durch die Kälte fressen. Es steckte bis heute so viel Kraft in dieser Pose, festgehalten im Augenblick, um nachfolgende Generationen zu warnen: Legt euch nicht mit uns an! Unzählige Legenden rankten sich um Belgor und die letzte Schlacht, in der die Winterelfen die Feuerwesen niedergerungen hatten. Manche erzählten, sein Herz würde noch immer schlagen. Sie behaupteten, er warte auf die Schmelze, auf einen Moment der Schwäche des Königshauses, um zurückzuschlagen. Als Eyra an einem seiner Klauenfüße vorbeiging, legte sie ihre Hände auf das Eis, ließ ein wenig Wärme hineinfließen und gab sich der Hoffnung hin, dass diesen Geschichten ein Kern Wahrheit innewohnte. Dieses kleine Ritual war ihr in den letzten Jahren zur Gewohnheit geworden, auch wenn sie nichts gegen sein kaltes Gefängnis auszurichten vermochte. Alle Versuche von Feuerwesen, ihn zu befreien, waren gescheitert. Die Kristalle formten sich neu, bevor ein einziger geschmolzener Tropfen zu Boden fiel. Das magische Feuer von roten Wesen war machtlos gegen diese Art von Eis, denn es entsprang einem mächtigen Zauber, zu dem nur der König der Winterelfen imstande war. In den Ebenen hinter den Sturmgebirgen standen angeblich zahlreiche vereiste Drachen. Belgor hatte es aber in der Hauptstadt des Südens erwischt. Seither war er hier gefangen, ob nun tot oder lebendig, und niemand konnte etwas daran ändern.
Eyra löste sich von ihm, kaufte einige Kräuter sowie einen roten Glaskristall für Naran und ging zu ihrem Haus mit der grünen Fassade. Im Erdgeschoss klopfte sie bei Madame Chévanier an, um ihren Mietrückstand auszugleichen. Die zeigte sich verblüfft über ihren plötzlichen Geldsegen, hakte jedoch nicht nach, woher die Münzen kamen. Die Diskretion ihrer Vermieterin war einer der Gründe, warum Eyra hier wohnte. Sie stellte nie Fragen. Diesem Umstand war aber auch zu verdanken, dass so einige zwielichtige Gestalten unter diesem Dach hausten. Auf dem Weg ins Obergeschoss begegnete sie der Fee aus dem dritten Stockwerk, die wie ein Kind aussah, aber als Assassine arbeitete. Und als sie den Treppenabsatz zu ihrer Etage erreichte, steckte der mürrische alte Wicht, der sie und Naran im Vorbeigehen oft als Feuerteufel beschimpfte, seinen Kopf durch den Türspalt. Vermutlich dachte er, einer seiner Lieferanten wäre eingetroffen. Mit was auch immer er handelte – in seinem Fall stellte Eyra lieber keine Fragen –, bei ihm gingen mehrmals täglich Boten mit unauffällig verpackten Päckchen ein und aus. Eyra grüßte ihn, woraufhin er ihr das altbekannte Schimpfwort zuwarf, seinen runzeligen Kopf schnell zurückzog und die Tür zuknallte.
„Eyra“, rief ihr jemand auf den letzten Metern zu ihrer Dachkammer entgegen.
„Oh, hallo, Ruben.“
„Soll ich das für dich tragen?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, griff ihr Wohnungsnachbar nach dem Holzstapel in ihren Händen und begleitete sie. „Hattest einen erfolgreichen Tag, was?“ Mit dem Kinn deutete er auf die Scheite, als würden sie nichts wiegen, und lächelte. Die Spitzen seiner roten Feuermähne fielen ihm in die wilden grünen Augen.
„Ja, lief ganz gut“, murmelte sie. Brennholz wurde immer teurer. Wälder gab es in direkter Umgebung von Calor schon lange nicht mehr, weshalb es aus weiter Ferne hergebracht werden musste. Ein Viertel ihrer Ausbeute hatte sie für dieses Bündel ausgegeben.
„Wir könnten jemanden wie dich wirklich beim Roten Zug gebrauchen.“ Er zwinkerte und Eyra fühlte sich unwohl, da er sich offenkundig zusammengereimt hatte, wie sie zu dem Geld gekommen war. Gewiss hatten sie bei der Rebellion keinen Bedarf an Gauklerinnen. Das Geschick einer Diebin war hingegen sicher willkommen.
„Keine Zeit“, antwortete sie wie immer. Der Gedanke, dem Treiben der Königin und der drei Prinzen ein Ende zu setzen, war verlockend. Ihre Eltern hatten früher auch gegen sie gekämpft. Doch jede ihrer wenigen entbehrlichen Minuten gehörte Naran.
„Du weißt, ich könnte dir jederzeit mit Geld aushelfen. Dann hättest du mehr Zeit für deinen Bruder.“
Er bot ihr nicht zum ersten Mal seine Unterstützung an, dabei hatte er eigentlich nichts zum Teilen, sonst würde er kaum in dieser schäbigen Behausung wohnen.
„Ich komme zurecht, danke. Und? Gibt es etwas Neues?“, erkundigte sie sich, ehe er das Thema vertiefen würde. Ruben konnte hartnäckig sein, wenn sie seine Hilfe ablehnte. Außerdem wollte Eyra nicht, dass er noch einmal auf ihren Geldsegen zu sprechen kam.
Ruben blies sich die Haare aus dem Gesicht. Als sie zurückfielen, blieb er stehen und blinzelte. „Könntest du bitte mal …?“
Eyra schmunzelte. Ruben nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um ihr näher zu kommen, und sie hatte ehrlicherweise nichts dagegen. Vorsichtig strich sie ihm die Strähnen aus der Stirn zurück in sein volles Haar. Sie müsste ihre Hand nur auf seine Wange legen, er würde die Einladung verstehen und sie sofort annehmen. Eyra wollte ihr Leben aber nicht komplizierter machen, als es ohnehin schon war. Und eine Beziehung mit einem Anhänger des Roten Zuges fiel eindeutig in die Kategorie kompliziert. Ihr blieb vermutlich irgendwann kein anderer Ausweg, als einen Mann des Geldes wegen zu heiraten. Da brauchte sie keinen feurigen Liebhaber, der womöglich Einwände erheben würde. Also zog sie ihre Hand zurück und setzte ihren Weg fort.
Ruben schloss mit großen Schritten zu ihr auf. „Wir wissen nun, wo sie den Eiskristall aufbewahren.“ Er machte sich ein wenig gerader.
„Wirklich?“ Auf diesem Stein fußte die ganze Macht des Königshauses.
„Er ist in den Gemächern der Prinzen.“
Eyra seufzte. „Na, dann müsst Ihr ja nur noch in den königlichen Palast gelangen und ihn holen.“ Auf dem pompösen Schloss, das einst der Sitz der Feuerkönige gewesen war, lagen so viele Bannzauber, dass sich niemand Zutritt verschaffen konnte. Sie waren also keinen Schritt weiter.
Ruben rempelte sie an und ließ es so aussehen, als hätte er das Gleichgewicht verloren, doch seine Augen blitzten verräterisch auf. „Fröne ruhig deinem Sarkasmus und friere dir dabei weiter den Allerwertesten ab. Ich tue wenigstens etwas.“
Ihr schlechtes Gewissen regte sich, denn natürlich hatte er recht. Das würde sie aber ganz sicher nicht zugeben. „Und baue du weiter deine Wolkenschlösser. Vielleicht kannst du ja irgendwann in eines einziehen.“
Ruben lachte laut und kehlig, ein Klang, der sich direkt in ihrer Magengegend einnistete. „Ich schicke dir meine Adresse. Dann kannst du zu Besuch kommen, wenn dir in Madame Chévaniers runtergekommener Behausung mal wieder das Dach auf den Kopf fällt.“
Damit spielte er darauf an, dass vor einem Jahr das Dach in ihrem Zimmer eingefallen war. Ihre Vermieterin hatte sich mit der Reparatur Zeit gelassen und Ruben hatte ihr geholfen, das Loch zwischenzeitlich notdürftig zu flicken. „Ach, in den Wolken wird es dir schnell langweilig. Da oben gibt es niemanden, mit dem du dich streiten könntest.“
Ruben schmunzelte. „Stimmt. Deine Gesellschaft könnte ich dort gut gebrauchen.“
Sein durchdringender Blick suchte den ihren, weshalb Eyra ihrer kleinen Kabbelei lieber ein Ende bereitete. „Ich wünsche uns allen, dass ihr Erfolg habt.“
„Irgendwer muss kämpfen.“ Ruben legte die Holzscheite vor ihre Tür und kam wieder hoch. „Was hältst du von folgender Vereinbarung: Wenn wir den Winter vertreiben, gehst du mit mir aus.“
Eyra lachte. „Auf jeden Fall.“ Dieses Versprechen gab sie ihm gerne. Auch wenn sie nicht daran glaubte, so war der Gedanke verlockend, denn mit dem Ende des Winters würden all ihre Probleme der Vergangenheit angehören. Dann hätte vielleicht auch ein Mann, den sie mochte, Platz in ihrem Leben. Ruben und sie waren vom selben Schlag und diese Vorstellung war schön. Vermutlich würde ihr Glück ohnehin nicht lange halten. Eine Beziehung zwischen zwei Feuerwesen verlief selten harmonisch. An Leidenschaft würde es ihnen nie mangeln, an hitzigen Wortgefechten allerdings ebenso wenig.
„Kann ich sonst etwas für dich tun?“ Er trat näher und ließ seine Magie aufwallen, sodass seine Hitze auf sie ausstrahlte.
Alles in ihr schrie danach, sich darin zu wärmen, dennoch wich sie zurück und schüttelte den Kopf. „Ich wünsche dir einen schönen Abend, Ruben.“
„Bis bald, Eyra.“
Sie schloss ihre Kammer auf und wuchtete das Bündel Holz ins Innere.
Beim Anblick ihres Bruders fiel wie üblich alle Leichtigkeit von ihr ab. Naran lag im Bett und starrte an die Decke, die bis heute von Stockflecken übersät war. Das tat er immer an schlechten Tagen. Stundenlang.
„Na, Kleiner“, sagte sie betont fröhlich und zog ihren Mantel aus.
Naran reagierte nicht sofort, als müssten ihre Worte erst durch die dicke Schicht an Teilnahmslosigkeit dringen, die ihn einhüllte. Als ihre Begrüßung ihn erreichte, richtete er seinen Oberkörper auf und sah sie fragend an.
Früher war er ihr bei ihrer Rückkehr lachend um den Hals gefallen, seine Feuermagie war auf sie übergesprungen und hatte den Raum aufgeheizt. Als er sie nur noch angegrinst hatte, war sie zuerst davon ausgegangen, er trauere ihrem Vater nach oder wäre innigen Zuneigungsbekundungen zu seiner Schwester einfach entwachsen. Doch als er mit jedem Tag ruhiger geworden war, hatte sie ihre Augen nicht länger vor der Wahrheit verschließen können: Ihn hatte dasselbe Schicksal ereilt wie tausend andere Bürger dieses Landes.
„Hattest du einen guten Tag? War Aurelie da?“ Die Heilerin besuchte ihn zweimal die Woche. Am Anfang war Naran danach ein wenig lebhafter gewesen, inzwischen machte es kaum einen Unterschied. Obwohl ihre Dienste Eyra einiges kosteten, traute sie sich nicht, die Behandlung abzubrechen, denn vielleicht hielt sie zumindest das Fortschreiten der Krankheit auf. Ebenso wagte sie nicht, seine Medikamente abzusetzen, auch wenn sie für diese stets stehlen musste.
„Ja, sie war hier.“ Narans Stimme blieb nüchtern und sein Blick glitt ins Leere. Das letzte Licht des kurzen Tages brach sich in den Glaskristallen, die Eyra an der kleinen Dachluke über den beiden Betten befestigt hatte, und sie warfen rote Punkte über Narans Gesicht und seine rußige Arbeitskleidung, die er noch immer trug. Wahrscheinlich wirkten diese Kristalle genauso wenig wie all der andere Hokuspokus, den sie für Naran kaufte, aber sie war so verzweifelt, dass sie alles ausprobierte. Ihresgleichen lud seine Magie am Feuer und nicht im Sonnenschein auf, der Heilerin zufolge sollte das farbige Licht seine Magie aber in Wallung bringen und seine Betäubung lösen. Zwar würde ihrer Auskunft nach ein echter Rubin besser helfen als ein eingefärbter Glaskristall, einen solchen konnte Eyra sich jedoch schlichtweg nicht leisten. Vermutlich behauptete die Heilerin solche Dinge ohnehin nur, weil auch sie mit ihrem Rat am Ende war.
Eyra setzte sich neben ihn auf die Bettkante und ihre grüne Magie trat hervor, als sie ihre Hand auf seinen Arm legte. Sie drang kaum mehr zu ihm durch, trotzdem blieb die Verbundenheit, die sie ihrem Bruder gegenüber empfand, ungebrochen.
Sie beschwor ihr Feuer, um den Rest ihrer roten Magie mit ihm zu teilen, doch da war einfach nichts mehr, was sie ihm geben könnte. „Ich habe Brennholz besorgt.“
„So haben wir es heute warm.“ Ihr Bruder lächelte, wobei sie merkte, dass das ein Zugeständnis an sie war. Sein Kopf wollte ihr Zufriedenheit vorgaukeln, doch sein Herz blieb stumm. Das Königshaus konnte das Volk leichter kontrollieren, wenn die Gefühle und die damit einhergehende Magie gedämpft waren. Die Wirkung des Schnees war allerdings oft viel verheerender. Bei all jenen, deren Gemüter nicht stark genug waren, um gegen die Betäubung des Schnees aufzubegehren, drang die Kälte bis tief in die Seele. Und so hatte die Schneekrankheit auch Narans Emotionen unter einer steinharten Eisschicht vergraben, die sie nicht zu durchdringen vermochte.
„Wie war es auf der Arbeit?“, erkundigte sie sich, um ein wenig Normalität bemüht.
„Wie immer.“
Jeden Morgen ging Naran in die Schmiede und jeden Nachmittag kam er zurück in ihre beengte Kammer, legte sich auf das Bett und hing seinen Gedanken nach, die er schon lange nicht mehr mit ihr teilte. Seine Arbeit erledigte er wohl gewissenhaft, mit einem traurigen Lächeln hatte sein Meister ihr aber anvertraut, dass er keinen zusätzlichen Handschlag rührte. Er kannte ihn von früher und wusste, wie sehr er das Feuer geliebt und beherrscht hatte. Seine ersten Schwerter, die er bereits in jungen Jahren gefertigt hatte, waren wahre Kunstwerke gewesen. Heute arbeitete Naran bei einfachen Tätigkeiten zu, weshalb er kaum Geld mit nach Hause brachte. Die tägliche Nähe zum Feuer tat ihm jedoch gut, deshalb war Eyra dankbar, dass sein Meister ihn nicht fallen ließ. Zwar litten viele Bewohner Estraoras unter der Schneekrankheit, dennoch war Arbeit knapp und er würde ohne Weiteres einen Ersatz für ihn finden.
Eyra erhob sich und trat an den Kamin. „Wie geht es dir?“ Sie legte zwei Holzscheite in die Feuerstelle und schickte eine spärlich kleine Flamme in ihre Fingerspitze, um sie anzuzünden.
„Gut.“
Dieselbe Antwort wie jeden Tag und doch gewöhnte sie sich nicht daran, denn es ging ihm nicht gut. Nur merkte er das nicht mehr.
„Was hast du am Nachmittag gemacht?“ Eyra zog den neuen Sonnenfänger aus ihrer Tasche und hängte ihn an einen freien Haken am Fenster. Dass sie noch mehr Geld für Glaskristalle ausgab, zeigte eindeutig das Ausmaß ihrer Verzweiflung.
„Nichts Besonderes“, antwortete Naran.
Eyra seufzte und wollte gerade von ihrem Tag erzählen, als ein Klopfen ihren Blick zur Dachluke lenkte. „Da sieh einer an.“ Sie hatte Fayette schon über drei Wochen nicht mehr gesehen. Sorgen hatte sie sich aber keine gemacht. Sie kam immer zurecht. Irgendwie.
Naran sank auf die Strohmatratze zurück, sein Blick glitt zur Decke und seine Augen nahmen wieder diesen leeren Ausdruck an. Manchmal hatte Eyra den Eindruck, er würde nur noch ein einziges Gefühl empfinden, und zwar Erleichterung, wenn sie ihn endlich in Ruhe ließ.
Als Eyra das Fenster öffnete, klimperten die daran befestigten Kristalle gegeneinander. Sogleich flog ihre Ziehschwester herein und landete auf der Kommode neben dem Bett, wo sie ihre Feenflügel mit einem Flattern vom Schnee befreite. „Irgendwann frieren meine Flügel ein und ich falle wie ein Stein zu Boden.“ Sie lief zu dem Keramiktopf mit den himmelblauen Vergissmeinnicht-Pflänzchen, die Eyra pflichtbewusst für sie goss. Mit einem Satz sprang sie hoch und setzte sich unter eine der Kelchblüten, um ihre Magie zu nähren. Wenn sie unterwegs war, brachten die Blumen ihrer Verehrer sie über die Runden, doch Feen zogen Pflanzen mit Wurzeln jederzeit Schnittblumen vor, wie Fayette ihr einmal erklärt hatte.
Eyra nahm auf ihrem Bett nahe dem Kamin Platz und streckte ihre Zehenspitzen dem Feuer entgegen. Wärme machte ein Zuhause erst heimelig und das Wissen, im Schlaf nicht frieren zu müssen, ließ sie wohlig seufzen. „Du solltest zu Fuß gehen. Das wäre sicherer.“ Fayette könnte ihre menschliche Form annehmen, sie weigerte sich aber strikt – was auch daran lag, dass sie als Fee weniger kälteempfindlich war.
„Geht nicht. Ich muss vor dem Schnee davonfliegen. Immer weiter und weiter“, flötete sie beschwingt, dabei lag so viel traurige Wahrheit in ihren Worten. Feen waren nicht nur auf Blumen angewiesen. Sie brauchten auch Luft und Freiheit wie Feuerwesen das Feuer. Wenn Fayette flog, war sie in ihrem Element. Hoch oben am Himmel lebte sie aus, wonach ihre Natur verlangte. Nur so konnte sie verhindern, dass die Kälte die Oberhand über ihre Gefühle gewann, waren sie auch noch so flatterhaft.
„Bei wem hast du die letzten Tage geschlafen? Louis? Jules? Gabriel?“ Eyra schmunzelte.
„Ach, Namen sind Schall und Rauch.“ Fayette rieb sich die Hände. „Hast du vielleicht eine Kleinigkeit zu essen?“
Hunger führte ihre Ziehschwester am häufigsten zu ihnen. Dicht gefolgt von irgendwelchem Ärger, den sie sich eingehandelt hatte und den Eyra für sie lösen sollte. Ersteres war Eyra eindeutig lieber, denn in ihrer kleinen Feenform wurde Fayette bereits von einem winzigen Brotstück satt.
„Du erinnerst dich also nicht mehr an seinen Namen.“
Fayette starrte an die Decke und schob ihre Lippen hin und her. „Nein. Sein überaus reizvoller Rücken wird mir aber noch lange im Gedächtnis bleiben.“ Sie hüpfte aus dem Blumentopf und überwand mit zwei Flügelschlägen die Distanz zum Kamin, in dem mittlerweile ein Feuerchen loderte. Wenig damenhaft ließ sie sich auf den niedrigen Steinsims plumpsen und seufzte.
Eyra lachte kopfschüttelnd und erhob sich. „Du bist unglaublich.“ Sie ging zu ihrer Tasche und holte den Brotlaib heraus, den sie auf dem Markt gekauft hatte. Sie brach ein daumennagelgroßes Stückchen ab und überreichte es ihr.
Fayette zog ihre Knie an und knabberte an der Kante. „Bevor ich es vergesse: Bei einer Soiree habe ich einen wohlhabenden Sonnenelfen kennengelernt und mir wurde zugetragen, er habe ein Faible für Feuermädchen. Er wäre im heiratsfähigen Alter und sieht nicht übel aus. Nur mal so.“
Eyra wischte sich über das Gesicht und machte sich dann daran, den Rest des Feuerholzes neben den Kamin zu stapeln. „Du kannst ihn mir ja einmal vorstellen, wenn es sich ergibt.“ Ja, irgendwann ließe es sich nicht mehr vermeiden, aus ihrem wohl recht ansehnlichen Äußeren Kapital zu schlagen. Eine günstige Zweckheirat wäre das Beste, auf das sie hoffen konnte. Diese Lösung wollte Eyra jedoch weitmöglichst nach hinten schieben. „Was gibt es sonst Neues?“, fragte sie ohne sonderliches Interesse, um von diesem Thema abzulenken.
„Hast du heute schon den Schneeboten gelesen?“
„Ich lese nie den Schneeboten.“
„Du solltest dich über die politischen Geschehnisse in diesem Land informieren.“
Eyra hob die Augenbrauen. „Du liest doch selbst nur Seite sieben und acht.“
Fayette schmunzelte. „Woher weißt du, auf welchen Seiten das Feuilleton zu finden ist?“
„Von dir, meine Liebe, und nun spuck schon aus, was du mir erzählen möchtest. Ich werde dich ja ohnehin nicht davon abhalten können.“
„Es wurde ein Gespräch mit einer der letzten Anwärterinnen abgedruckt.“
„Ach, wurde schon wieder eine des Schlosses verwiesen?“
„Sie war die letzte Auserwählte. Die anderen mussten schon früher gehen.“
„Die drei Prinzen haben einen erstaunlich hohen Verschleiß an Heiratskandidatinnen.“ Alle paar Wochen lud das Königshaus eine erlesene Auswahl an Elfen zu einem Ball ein. An dessen Ende wählten die Prinzen einige Anwärterinnen aus, die ins Schloss einziehen und sie besser kennenlernen durften. Und da die Königssöhnchen sich nie in der Öffentlichkeit zeigten, waren die abservierten Heiratskandidatinnen eine beliebte Quelle der Klatschpresse.
„Das Geld vom Schneeboten wird sie hinreichend über ihr Ausscheiden hinwegtrösten. Sie hat aber auch ausgepackt, du wirst es mir nicht glauben!“ Fayette pickte zwei Brotkrümel von dem Stein auf und schob sie sich in den Mund. „Die Gazetten berichten seit Wochen von einem Hippogryph, der über der Stadt seine Kreise dreht. Das hast du mitbekommen, oder?“
Eyra zuckte mit den Schultern. „Nein.“
Fayette schnalzte mit der Zunge. „Ohne mich würdest du wirklich völlig ahnungslos durch die Welt stolpern.“
„Ja, ohne all diesen Klatsch wäre ich vermutlich nicht überlebensfähig.“
„Ganz recht. Auf jeden Fall weiß man jetzt, was das Viech in Calor sucht. Prinz Noah hat es gezähmt und abgerichtet. Einen Hippogryph! Stell dir das nur vor.“
„Und was macht er mit diesem niedlichen Haustier?“ In den Palast würde das Mischwesen aus Pferd und Adler passen, immerhin hatten dort einst auch Drachen gelebt. Der Rest der Königsfamilie duldete dieses Wesen aber sicher nicht im Haus, denn Winterelfen waren in der Regel von allem Spaß befreit.
„Er reitet mit ihm aus. Da hat ein Winterelf mal verstanden, was es bedeutet, sich zu amüsieren.“
Kein Wunder, dass Fayette das imponierte. „Ich sehe regelrecht vor mir, wie ihr gemeinsam in den Sonnenuntergang fliegt.“ Trotz ihrer Worte konnte Eyra es sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Prinz sich den Hippogryph zur Unterhaltung hielt.
„Ja, nicht wahr? Ein paar Tage mit einem Prinzen, das wäre schon was.“ Sinnierend neigte Fayette den Kopf von links nach rechts. „Noah oder Saul würde ich beide nehmen. Nur Lazar fände ich wohl zu griesgrämig. Er war auch wieder derjenige, der die Anwärterin nach Hause geschickt hat.“
Eyra ließ sich abermals auf ihrem Bett nieder. „Und was hat sie getan, um seinen Unmut auf sich zu ziehen? Den Salat versehentlich mit dem Fischbesteck gegessen?“
„Ihrer Erzählung nach hat sie sich nur in höflicher Konversation geübt und gefragt, was er tut, um zur Ruhe zu kommen. Da hat er seinen Stuhl ruckartig zurückgeschoben und sich entschuldigt. Angeblich hat er beim Rausgehen seine Hand gegen den Türrahmen gedonnert. Eine Schande für seine Art.“ Fayette schmunzelte.
In diesem Punkt berichteten die meisten Gazetten dasselbe: Prinz Lazar war das schwarze Schaf der Familie, das Gegenteil von dem, was die Königin und die Hohepriesterin dem Volk predigten. Ihnen zufolge lag die höchste Befriedigung darin, seine Mitte zu finden. Das war es, wofür Winterelfen standen. Erst wenn alle Farben und die damit verbundenen Gefühle im Einklang waren, leuchtete ihre Magie so weiß wie der Schnee. Prinz Lazar schien jedoch nicht nach dieser perfekten Balance zu suchen, die seinen Geist und seine Magie auf ein neues Niveau brachte. „Hat er die letzte Anwärterin nicht aussortiert, weil sie ihm zu still war?“
„Richtig. Das soll noch einer verstehen. Da stellt eine von ihnen Fragen und dann ist ihm auch das nicht recht. So wird keiner der drei heiraten, was eine Schande wäre. Von Prinz Saul war die Kandidatin hingegen über die Maßen angetan. Angeblich hat er sich um sie bemüht und sogar versucht, in einem Gespräch mit Prinz Lazar zu vermitteln, damit sie nicht gehen muss.“
„Alle Anwärterinnen sind von Saul angetan. Genau wie er von allen Anwärterinnen.“
„Ihrer Erzählung nach hat er ihr ordentlich den Hof gemacht. Sie meinte, sie hatten eine sehr innige, nahezu außergewöhnliche Verbindung zueinander. Es ist ungerecht, dass Prinz Lazar sie fortgeschickt hat, wo sie doch eine Favoritin von Prinz Saul war.“
„Das Wort ‚Favoritin‘ wird in Zusammenhang mit Prinz Saul ziemlich überstrapaziert, meinst du nicht?“
„Stimmt auch wieder.“ Fayette gähnte. „Wie läuft es mit dem feurigen Kerl von nebenan? Wie war gleich sein Name?“
„Habe ich vergessen“, behauptete Eyra, um das Thema direkt zu unterbinden.
„Für ihn würde ich sogar in Kauf nehmen, mich in meine Menschenform zu verwandeln. Wenn du ihn nicht willst …“ Sie schürzte die Lippen.
Eyra grummelte leise. Sie hielt Ruben zwar auf Abstand, das hieß aber nicht, dass sie ihn ihrer Ziehschwester bereitwillig überlassen würde. Allerdings wollte sie sich nicht die Blöße geben, das einzugestehen. „Wenn du meinst.“
Die meisten Männer waren mehr als begeistert von Fayettes herzförmigem Gesicht, der Stupsnase und ihrem gewellten blonden Haar, das zum Frust aller weiblichen Wesen schon beim Aufstehen wie durch Zauberhand perfekt saß. Eyra glaubte jedoch nicht, dass Ruben auf ihre Avancen, die sie mehr als eindrücklich vermitteln konnte, eingehen würde.
„Du trägst auch blaue Magie in dir, Eyra. Du solltest sie pflegen. Nimm dir ein paar Freiheiten raus, verschaffe dir hier oder da eine Auszeit! Und wo könnte man die besser finden als im Bett eines rothaarigen Hünen?“
„Ich brauche meine blaue Magie nicht.“ Sie hatte ihr Feuer. „Genauso wenig wie die grüne“, setzte sie nach.
„Kein Feuerwesen, das ich kenne, verfügt über mehr als zwei Farben. Du solltest herausfinden, woher du die blaue Magie hast. Sie ist ein Geschenk. Wirf es nicht fort.“
Ja, die magischen Wesen, deren Eltern zwei unterschiedlichen Rassen angehörten, erbten ausschließlich die Magie von nur einem Elternteil. In einer absonderlichen Laune der Natur hatte Eyra ebenfalls ein bisschen grüne Magie von ihrem Vater mitbekommen. Zumindest glaubte sie, diese von ihm zu haben. Das mit der blauen Magie war aber hingegen unerklärlich, denn weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten Feenblut in sich und sie stammten ihres Wissens auch von keinem anderen fliegenden Wesen ab. Da das Rot ihrer Feuermagie so lichterloh in ihrer Brust brannte, hatte sie allerdings keinen Bedarf an dieser schwächeren Kraft. Dass sie überhaupt zu blauer und grüner Magie fähig war, hatte sie erst vor wenigen Jahren bemerkt, und es war ihr völlig egal – zumal ihr ohnehin alles gestohlen bleiben konnte, was mit ihrem Vater zu tun hatte. Fayette hackte jedoch in regelmäßigen Abständen auf dem Thema herum.
Ihre Ziehschwester legte die letzten Brotkrumen beiseite und flog auf Eyras Schulter. „Spürst du sie nie, die Freiheit, die der blauen Magie innewohnt? Diesen Wunsch, auszubrechen? Alles hinter dir zu lassen, alle Verpflichtungen und Zwänge, und von nichts als Weite umgeben zu sein?“
Eyra ballte die Hände zu Fäusten. „So wie deine Mutter, als sie meinen Vater überredet hat, seinem alten Leben den Rücken zuzukehren und seine Kinder zurückzulassen?“ Eyras Mutter war bei Narans Geburt gestorben und ihr Vater hatte viele Jahre später beim Roten Zug Sophie kennengelernt. Feen banden sich für gewöhnlich nicht dauerhaft an einen Partner, im Taumel ihrer kurzfristigen Verliebtheit hatte Fayettes Mutter aber seinen Heiratsantrag angenommen. Anfangs schloss Eyra ihre Stiefmutter sogar ins Herz, denn sie sah das erste Mal seit dem Tod ihrer Mutter das Glück in den Augen ihres Vaters. Seine Magie leuchtete so hell und tiefgrün wie schon lange nicht mehr. Und so hörte sie sich ohne Murren Sophies Reden von der großen weiten Welt an, die da draußen auf sie alle warte. Eyra brauchte ausschließlich ihre Familie und ein bescheidenes Zuhause, um glücklich zu sein, doch diese Erwiderung schluckte sie in den ersten Monaten herunter. Mit der Zeit ärgerte sich Eyra jedoch zunehmend über diese Predigten und die Unstetigkeit, die Sophie in ihr Leben brachte. Meist hatten sie keine Ahnung, wo sie war. Sie verabschiedete sich nie, genauso wenig wie sie sich erklärte, wenn sie zurückkam. Es war aber nicht diese Sorglosigkeit, die Eyra am meisten erzürnte, sondern die Tatsache, wie sehr ihr Vater unter diesem Verhalten litt. Er war ein Waldelf und somit wogen für ihn Nähe und Verbundenheit mehr als alles andere. Wie es aussah, stimmte es, dass Gegensätze sich anzogen. Wobei in ihrem Fall Sophie ihn vielmehr mit sich zog, denn als sie wieder einmal von Abenteuern träumte, suchte er diese gemeinsam mit ihr in der Ferne. Niemals hätte Eyra geglaubt, dass ihr Vater diesem Ruf folgen würde und ihm seine Verbundenheit zu Sophie wichtiger wäre als seine Familie. Sie wurde eines Besseren belehrt. An dem Morgen, an dem sie seinen Abschiedsbrief neben ihrem Kopfkissen fand, stürmte sie aus dem Haus, um es nicht in Brand zu setzen. Bis heute spürte sie, wie das Papier zwischen ihren Fingern verglühte, ehe ein eiskalter Wind ihr die Aschereste aus der Hand riss. Doch die Worte von Freiheit, einem Leben fernab des Winters und einer überfälligen Veränderung waren geblieben. So sehr sie diese Erinnerung auch den Flammen übergeben wollte, sie hatte sich in ihre Seele eingebrannt. Und wo ihre Wut in ihr schwelte und ihre Magie jeden Tag aufs Neue nährte, hatte die Traurigkeit nach und nach Narans Feuer erstickt und den Weg für die Schneekrankheit bereitet. Die Taubheit hatte einige Wochen später eingesetzt, vielleicht hatte sie die Zeichen aber auch erst dann richtig gedeutet. Naran war immer ein ruhiger Junge gewesen, der seine Nase lieber in Bücher als in die Wirklichkeit gesteckt hatte. Eyra glaubte aber, dass die Kälte ohne den treulosen Weggang ihres Vaters nie die Oberhand über ihn gewonnen hätte. Er hatte nur noch sie. Und nun erzählte Fayette ihr, sie solle ausbrechen und ihren eigenen Träumen nachjagen!
Eyra wackelte mit der Schulter, um die Fee abzuwerfen, daraufhin schwirrte sie nun allerdings vor ihrem Gesicht. „Ich weiß, du willst das nicht hören, doch es gibt noch einen Weg dazwischen. Man muss nicht gleich sein ganzes Leben aufgeben, um die Freiheit zu suchen. Es würde reichen, ab und an ein wenig locker zu lassen.“
„Locker lassen?“, echote Eyra. „Und wer verdient die Miete? Wer kümmert sich darum, dass Naran seine Behandlung bekommt? Dass wir etwas zu essen auf dem Tisch haben?“ Von ihrer Ziehschwester erwartete sie nichts. Sophie hatte sie mit in die Ehe gebracht. Sie waren nicht blutsverwandt, also trug Fayette keine Verantwortung für sie oder für Naran. Sie selbst hingegen konnte nicht einfach so ausbrechen.
„Es sind manchmal nur Minuten, in einigen Fällen Sekunden, weißt du?“ Ein verträumtes Lächeln umspielte Fayettes Kirschmund. „Wenn mich meine Flügel über alle Grenzen tragen, wenn die Schwerelosigkeit meinen Geist entrückt und die Zeit verwischt. Der freie Fall, wenn ich mich kopfüber in den Abgrund schraube, ehe der nächste Windstoß mich auffängt. Die Luft, die über meine Haut streicht, in meine Haare fährt, das Rauschen wie ein Lied von Freiheit, das sich wie ein Ohrwurm einnistet und alle Last davonträgt. In diesen Augenblicken erholt sich meine Magie am meisten.“
„Ich kann nicht fliegen.“ Mürrisch rückte Eyra näher ans Feuer, um sich aufzuwärmen.
„Dann ist es in deinem Fall vielleicht der Anblick der Flammen, ihr Knistern und Prasseln, die Hitze … Herrje, es muss doch irgendetwas geben, das dir das Gefühl von Freiheit beschert!“
Eyra dachte an den Moment, nachdem sie der Garde entkommen war, an diese wohltuende Gewissheit, dass für ein paar Tage alles gut sein würde. Schnell schüttelte sie diesen Gedanken ab. Sie wollte sich nicht solche Flausen in den Kopf setzen lassen. Es reichte, wenn eine von ihnen hier beliebig ein- und ausging. „Glücklicherweise endet deine Fürsorge um mich, sobald deine eigene Freiheit ruft. Wie lange bleibst du dieses Mal?“
„Zwei bis drei Tage. Meinst du, du könntest mir mit zwanzig Kupfer aushelfen, bevor ich aufbreche?“
„Zwanzig Kupfer?“, entfuhr es Eyra. „Wofür brauchst du das Geld dieses Mal?“
„Ich habe vielleicht eine Wette verloren.“ Zerknirscht kaute sie auf ihrer Unterlippe. „Und wo ich den Buchmacher gerade erst kennengelernt habe, treffe ich ihn nun urplötzlich auf allen Festlichkeiten. Er ist mir sogar heute auf der Matinee von Rigol Ambertus über den Weg gelaufen, ein sehr seriöser Herr, dem ich solch dubiose Bekanntschaften niemals zugetraut hätte. Mein Gläubiger hat mir jedenfalls unmissverständlich klar gemacht, dass er mir nacheinander die Flügel ausrupft, sollte ich nicht allmählich meine Schulden begleichen.“
„Um was ging es bei der Wette?“
„Ich habe im Eiszapfen-Bogenschießen auf meinen damaligen Begleiter gesetzt.“ Sie spitzte die Lippen. „Sagen wir, ich hätte seine Prahlereien, er sei ein begnadeter Schütze, nicht für bare Münze nehmen sollen. Männer erzählen so allerhand, um eine Frau zu verführen.“
„Fayette, wann lernst du es endlich?“
Ihre Ziehschwester flog näher an Eyras Gesicht und verpasste ihrer Nase einen Fußtritt, was sich allenfalls wie ein leichtes Stupsen anfühlte. „Hör auf, so ein Miesepeter zu sein.“ Sie flatterte davon, bevor Eyra zurückrüpeln konnte – was sie zweifelsohne getan hätte.
Eyra wog ab, ob sie Fayette helfen sollte. Wäre die Konsequenz nur eine kleine Abreibung gewesen, hätte sie sie schmoren lassen. Mit einem erzürnten Buchmacher war aber nicht zu spaßen und zufälligerweise hatte sie gerade das Geld. „Ich gebe dir das Kupfer, sofern du mir versprichst, dich bei Wetten künftig zurückzuhalten“, entgegnete Eyra, wohlwissend, dass Fayette sich nicht lange an ihre Versprechen erinnerte.
„Meinetwegen.“
„Und was hast du vor, wenn du weiterziehst?“ Es brachte nichts, sich mit ihrer Ziehschwester zu streiten. Sie war unbelehrbar, somit konnte Eyra sich die Mühe sparen.
Fayette flog zu Narans Daunenkissen und schmiss sich unter dem Einsatz ihres ganzen Körpergewichts dagegen, um sich eine kleine Kuhle zurechtzuschieben. „Ach … kommt hier, kommt da, kommt Trallala.“
Also wusste sie noch nicht, wohin es sie verschlagen würde. Wie immer.
„Schlaf gut“, brummte Eyra.
„Du auch“, antwortete Fayette in Gedanken.
Während Fayette sich in die flauschige Mulde kuschelte, wunderte Eyra sich wie so oft darüber, dass sie und ihre Ziehschwester sich stumm unterhalten konnten. Diese Fähigkeit setzte eine gewisse Nähe und Vertrautheit voraus und manchmal wusste sie nicht einmal, ob sie Fayette überhaupt leiden konnte.
Die kleine Fee spähte hinüber zu Naran, der auf die Übernahme seines Kopfkissens in keiner Weise reagiert hatte. „Geht es ihm schlechter?“ Fayettes Stimme war zaghaft, als fürchte sie sich vor der Antwort. Ihr sorgenvoller Blick erinnerte Eyra daran, warum sie ihrer Ziehschwester jedes Mal aus ihrem selbst gemachten Schlamassel heraushalf und sie aufnahm, wenn sie ein Dach über dem Kopf brauchte. Sie kam weder oft noch regelmäßig zu Besuch, es war aber eine Erleichterung, mit ihrer Sorge um Naran ausnahmsweise mal nicht allein dazustehen.
„Diese Krankheit verläuft so schleichend, dass ich es gar nicht genau weiß“, erwiderte Eyra.„Kannst du morgen Nachmittag bei ihm bleiben?“
So ungern sie es auch zugab, Fayettes Leichtigkeit tat ihm gut. Immer wenn sie etwas Zeit mit ihm verbrachte, schien Naran ein wenig wacher zu sein … ein wenig mehr er selbst. Das hielt Fayette aber nicht davon ab, nach einer kurzen Stippvisite wieder zu verschwinden.
„Klärchen.“ Mit einem Seufzen rollte sie sich zusammen und schlang ihre blauen Flügel um sich. „Wohin gehst du?“
„Die Zeiten sind hart. Sogar in der Sentergasse sind die Leute gerade nicht sonderlich spendabel, deswegen muss ich länger arbeiten. Bis zum Abendessen bin ich zurück.“
„Keine Sorge“, nuschelte Fayette schon halb im Schlaf. „Ich kümmere mich um unseren Bruder.“Ihre Lider fielen zu und kurz darauf folgte ein fiepsiges Schnarchen.
Es blieb zu hoffen, dass Fayette sich morgen an diese Zusage erinnerte.