Leseprobe "Die Feen der Nacht"

Ein Märchen aus Licht und Schatten


Prophezeiung von Nasca

 

Nur die Fee, deren Schatten vor dem Lichte flieht 

und deren Dunkelheit selbst vor der Sonne steht, 

entscheidet, ob die ewige Nacht einzieht 

und der Sonnenhof mit dem Tage untergeht. 

Solange ihr Schatten im Lichte bleibt, 

herrscht in Nasca keine ewige Nacht. 

Mit dem Prinzen, dessen Lichte die Schatten vertreibt,  

entscheidet sich, ob der Tag erwacht. 

Sein Treueschwur mit dem hellsten Licht 

und sein Hof mit einer großen Liebe geweiht, 

bringen Tag und Nacht ins Gleichgewicht 

und bannen die lange Dunkelheit.


Kapitel 1

Nela eilte aus dem nachtschwarzen Wald, um den Anschein zu erwecken, sie wollte der Dunkelheit schnell entfliehen, denn das war es, was die Lichtwesen im Süden des Landes taten. Sie huschten in ihre Häuser, sobald die lange Nacht anbrach, und kamen erst wieder zur Mittagszeit heraus, wenn die Sonne sich ihren Platz zurückerkämpfte.

Als Nela die Dorfstraße betrat, stellte sie aber fest, dass an diesem Tag alles anders war. Obwohl die Finsternis das Land noch im Griff hatte, drang ihr ein aufgeregtes Stimmengewirr entgegen und viele Bewohner standen am Straßenrand. Waldelfen in ihrer besten grünen Tracht, Blumenfeen in luftig-blauen Kleidern, eine Sonnenelfen-Familie, deren Licht ganz schwach glomm. Dazwischen tummelten sich einige Menschen. Sie alle warteten auf das große Ereignis, das auch Nela hergeführt hatte: Sie wollten den König und den jungen Prinzen nicht verpassen, die heute das Dorf passieren würden.

„Grüßt den Tag!“, erklang es von einigen Seiten.

Ihr Beruf als Heilerin brachte es mit sich, dass sie in den meisten Häusern ein und aus ging. Trotzdem winkte niemand sie zu sich heran, was Nela nicht wunderte. Über die Jahre hatte sie lernen müssen, dass Nähe die Gefahr barg, sich als Nachtwesen zu verraten. Aus diesem Grund pflegte sie keine Freundschaften und wahrte zu den Dörflern eine gewisse Distanz, so schwer ihr das auch fiel.

Nela rief ihre Magie herbei, ehe sie ins Licht der Öllampen trat, die viele bei sich trugen. Sogleich drängte ihr Schatten zur Flucht, um der Helligkeit zu entkommen. Bleib!, befahl sie stumm, verstärkte ihren Willen mit Magie und zwang ihre dunkle Silhouette zurück an den ihr angestammten Platz: hinter ihr auf dem Lehmboden, im richtigen Winkel zu der Lichtquelle. Mit einem flüchtigen Schulterblick vergewisserte Nela sich, dass ihr Schatten gehorchte und nicht flimmerte.

„Grüßt den Tag“, sagte der Dorfvorsteher zu Nela. „Freut Ihr Euch auf dieses große Ereignis, Seraphine?“

Sie lebte schon über ein Jahr an diesem Ort, dennoch hatte sie sich nie an den Namen gewöhnt, unter dem man sie hier kannte.

„Ich kann es kaum erwarten, den König und den Prinzen zu sehen“, antwortete sie möglichst beschwingt.

„Ist das so?“ Sein Blick glitt zu ihrem Schatten und verweilte dort drei Herzschläge lang. Anscheinend schenkte er dem jüngsten Gerücht im Dorf Glauben, man habe sie schwarze Magie wirken sehen.

Ob jemand sie wirklich bei einer Behandlung beobachtet hatte oder ob ihr Aussehen lediglich die Fantasie eines Dorfbewohners beflügelte, wusste sie nicht. Sie gab sich als Lichtwesen aus, färbte ihre naturschwarzen Haare mit Rubenkraut rot und trug die geblümten Kleider einer Blumenfee. Ihre nachtblauen Augen und der blasse Teint boten allerdings ausreichend Anlass für Spekulationen. Umso besser war es, dass sie an diesem Tag im Dorf war und sich nicht verkroch. Nun musste sie nur noch den Mittag überstehen und sich dabei möglichst beschwingt geben. „Natürlich. Einen waschechten Prinzen sieht man bestimmt nur einmal im Leben“, erwiderte sie mit einem Freudestrahlen und hielt stärker an ihrem Schatten fest, denn würde er zucken, könnte der Dorfvorsteher sie als Nachtwesen entlarven. Und sollte er ganz aus dem Licht verschwinden, wäre das vermutlich ihr Todesurteil, zumal jeden Moment die Garde im Dorf einfallen würde.

Nela spähte die Straße hinab.

Der König und sein Gefolge waren bisher nicht zu sehen, die herumwirbelnden Farben in der Menge sorgten jedoch für genügend Unterhaltung. Grasgrüne Funken stoben durch die Luft, wo ein kleiner Waldelf seiner Schwester einen Apfel klaute und ihn unsichtbar machte. Eine Blumenfee zog beim Überfliegen der Menge einen blassblauen Streifen hinter sich her und eine Erdfee vertrieb sich die Zeit, indem sie ein Blumenbeet vor ihrem Haus in braune Magie tauchte, damit die Pflanzen schneller gediehen.

Am meisten fesselte Nela der Anblick von Greta. Die junge Sonnenelfe umgab sich mit einem goldgelben Schimmer, um einen Jungen zu umgarnen, der vor ihr an einer Mauer lehnte. Im Wechsel durchzogen alle erdenkliche Farbtöne ihren hellen Schein und reflektierten sich auf seiner Haut. Da sich die Magie der Sonnenelfen nicht in der Natur, sondern direkt von der Sonne auflud, waren sie nicht nur die stärksten Lichtwesen. Sie waren auch die mit der buntesten Magie, denn dem Licht entsprangen alle Farben. 

Bei dieser schillernden Vielfalt musste Nela ihren Zieheltern widersprechen, Licht- und Nachtwesen wären gar nicht so verschieden. Sie selbst konnte wie alle Feen und Elfen der Nacht ausschließlich schwarze Magie wirken. Und Schwarz war nicht einmal eine Farbe, sondern die Abwesenheit von Licht. 

Sie suchte nach ihren Zieheltern und entdeckte sie die Straße hinab im Gespräch mit ein paar Dorfbewohnern. Sie standen mit dem Rücken zu ihr, dennoch trat Nela zurück und versteckte sich hinter einer Menschentraube.

Sie hatten in letzter Zeit viel über diesen Tag gestritten. Cecilia und Rupert hatten sich dafür ausgesprochen, dass sie sich heute vom Dorf fernhielt. Nela glaubte allerdings, es machte sie erst recht verdächtig, bliebe sie einem solch wichtigen gesellschaftlichen Ereignis fern. Da könnte sie gleich Flugzettel verteilen, auf denen stand, dass sie ein Nachtwesen war und deswegen die Nähe der königlichen Garde mied. Nein, sie musste hier sein, um die Gerüchte nicht weiter zu nähren.

Und ehrlicherweise wollte sie auch den Prinzen sehen, denn sie machte sich schon seit Jahren Gedanken, wie er wohl sein mochte. Dabei war ihr Interesse im Gegensatz zu den meisten weiblichen Wesen im Süden nicht romantischer Natur. Sie war einfach neugierig auf den Sonnenelfen, von dem die Zukunft dieses Landes abhing.

Nela legte den Kopf in den Nacken und suchte nach der Sonne, die hinter dem finsteren Wolkenband bloß zu erahnen war. Ein anthrazitfarbener Fleck auf einer sonst schwarzen Leinwand. Ihrem Stand nach müssten die Glocken bald zu Mittag läuten und sie hoffte, dass sich der königliche Besuch noch ein wenig Zeit ließ. Kaum auszudenken, sie würden genau dann auftauchen, wenn …

„Da!“, tönte es neben ihr von einem kleinen Mädchen.

Nelas Blick folgte ihrem Fingerzeig.

Sie entdeckte weder den Prinzen noch den König, nur Sonnenstrahlen, die die Dunkelheit zerteilten. Das Licht der Königsfamilie erhob sich wie eine aufgehende Sonne am Horizont, überzog den Waldboden mit einem Hauch von Gold und tauchte den sanften Nebel, der zwischen den Bäumen hing, in Regenbogenfarben. 

Nela kannte keine Morgendämmerung, da diese stets von den Schatten verdeckt wurde, genauso stellte sie sich den Tagesanbruch aber vor. 

Hufgetrappel erklang und schwoll an, während das Stimmengewirr verstummte. Das Licht changierte von leuchtend über strahlend zu weißglühend. Die Dorfbewohner reckten ihre Gesichter wohlig dem Sonnenschein entgegen, während Nela den Impuls unterdrückte, ihre Augen mit der Hand abzuschirmen. Bislang verharrte ihr Schatten bewegungslos hinter ihr, sie nahm jedoch mit jeder Faser ihres Körpers wahr, wie er ausbrechen und der Helligkeit entfliehen wollte. 

Vorsichtig lugte sie um sich. Die meisten waren von dem Lichtspektakel vollkommen gefangen genommen, die Aufmerksamkeit des Dorfvorstehers richtete sich hingegen auf den Boden. Auf die Stelle, an der sich Nelas Schatten abzeichnete.

Aber sie konnte ihn beherrschen! Indem sie das hier schaffte, strafte sie all die Tratschmäuler Lügen. 

Obwohl alles in ihr zur Flucht drängte, reckte sie ihr Kinn und schaute mit zusammengekniffenen Augen die Straße hinab. 

Ein Bannerhalter ritt voraus, dicht gefolgt von einem Trupp königlicher Wächter. Dahinter versank alles im gleißenden Licht.

Als dieses näher wanderte, erkannte Nela die goldglühenden Silhouetten der zwei Sonnenelfen, eine untersetzte und eine schlanke Gestalt. Offenbar stimmte das Gerede über den Gesundheitszustand des Königs, denn während sein Sohn mit seiner geraden Haltung und dem erhobenen Kinn ein anmutiges Bild abgab, hing er lose im Sattel. Sein Oberkörper wankte und er machte den Anschein, jeden Moment vom Pferd zu fallen. Vielleicht stimmte das Gerücht, er sei nicht länger in der Lage zu regieren, und diese Reise diene dem Zweck, dem Volk schon einmal seinen künftigen Regenten vorzustellen. Der amtierende König war ein gütiger Herrscher und niemand wünschte ihm Schlechtes. Trotzdem wartete ganz Nasca auf die Krönung seines Sohnes, denn kein anderer als er konnte die Finsternis bannen. So sagte es die Prophezeiung ihres Landes.

Der Tross hielt kurz vor ihr an und der Bannerhalter löste sich aus den Reihen. „Volk von Nasca! Heißt den König und den Thronfolger willkommen“, rief er in einem nasalen Tonfall über die Menge hinweg.

Beifall und Jubelrufe brandeten auf.

Der Sprecher des Königshauses schwieg, bis wieder Ruhe einkehrte. „Früher herrschten Tag und Nacht im Einklang. Vor zwanzig Jahren erklärte uns der Nachthof jedoch den Krieg, indem er die Dunkelheit über unser Land hereinbrechen ließ“, erzählte er. 

Die Anwesenden nickten oder murmelten Zustimmungen. Tagtäglich litten sie unter dieser Finsternis, die den Großteil des Tages beherrschte. 

„Seither schickt die Königin der Nachtwesen einen jeden Morgen ihre Schattenfront in den Süden aus und nimmt uns Lichtwesen den Zugang zur der Quelle unserer Magie.“ Er deutete zum Himmel, wo die schwarzen Wolken unter dem Einfluss des Lichts bereits ein wenig aufgebrochen waren und die Sonne freigaben. „Doch einen jeden Tag um die Mittagsstunde stellt sich die Königsfamilie vom höchsten Turm ihres Schlosses aus der Dunkelheit entgegen und vertreibt die Schatten für ihr Volk.“

Alle Köpfe schwangen zu dem König und seinem Sohn herum, von denen nur die grellen Umrisse zu sehen waren.

Nela war unbegreiflich, wie es der dunklen Feenkönigin Casée gelang, den gesamten Himmel mit schwarzen Wolken zu verdecken. Genauso wenig verstand sie, auf welche Weise die Königsfamilie diese zurückdrängte – wenn auch nur für drei Stunden, denn dann rückten die Schatten wieder vor und hüllten das Land erneut in Dunkelheit. Dieser Kraftakt erschöpfte ihre Magie, weshalb sie sich erst erholen mussten, ehe sie am nächsten Mittag aufs Neue gegen die Schatten antreten konnten. Dabei galt Prinz Liron bereits als einer der mächtigsten Sonnenelfen, die es je gegeben hatte. Seit er seine Eltern unterstützte, hatten sie über eine Sonnenstunde dazugewonnen. Dennoch reichte es nicht, um den ganzen Tag zurück ins Land zu holen.

Der Sprecher breitete den freien Arm aus. „Schon bald …“

Das Geläut der Kirchglocken unterbrach seine Rede und er wartete, bis der zwölfte Gong verklang. „Die Uhrzeit hat entschieden. Heute wird Eurem Dorf die Ehre zuteil, zu bezeugen, wie die königliche Familie die Sonne zu uns holt.“

Nela atmete tief durch, obwohl sie lieber ihren Frust hinausgeschrien hätte. Sie hatte von der Möglichkeit gewusst, dass der König und sein Gefolge genau zur Mittagszeit ihr Dorf passierten. Jedoch hatte sie gehofft, dass ihr das Schicksal wohlgesonnen wäre und ein anderer Ort in den Genuss dieses Spektakels käme. Zwar hatte sie Übung darin, ihren Schatten im Schein einer Öllampe unter Kontrolle zu halten. In der Mittagssonne gelang es ihr ebenfalls recht zuverlässig. Ihn an seinen Platz zu zwingen, während das Königshaus die Umgebung mit Licht flutete, stelle aber eine größere Herausforderung dar.

Sie überlegte zu flüchten, doch es war zu spät. Die Hitze, die sich von dem König und seinem Sohn ausbreitete, stach ihr bereits ins Gesicht. Licht schwappte wie eine reißende Woge über sie hinweg und erhellte den Himmel. Das Zittern ihres Schattens steckte sie an und sie griff nach all ihrer Magie, um ihn festzuhalten. 

Ein Raunen ging durch die Dorfbewohner, als direkt über ihnen die schwarzen Wolken aufrissen und die Sonne freigaben, die nur auf ihren Auftritt gewartet zu haben schien. Ihre Strahlen verdichteten sich um die Königsfamilie und nährten ihre Magie, sodass sie die Finsternis weiter zurückdrängen konnten. Dunkle Flecken tanzten am Rande ihres Blickfelds, dann ging alles in Helligkeit auf. 

Ihre Knie wurden weich, ihre Gliedmaßen kribbelten und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Nela konzentrierte sich mit aller Macht auf ihren Schatten. Er schlich ganz in ihrer Nähe herum, das spürte sie. Ob das Zittern von ihm oder ihr selbst ausging, konnte sie jedoch nicht sagen. 

Die Sekunden streckten sich scheinbar der Unendlichkeit entgegen, bis hinter ihren geschlossenen Lidern normaler Tag zu herrschen schien. Nela blinzelte und ihr stockte der Atem, da ihr Blick auf den des Prinzen traf. 

Er war zu ihr geritten und sah von seinem Pferd auf sie herab. Sein Licht war versiegt und in seinen strahlend blauen Augen stand eine Frage, die sie nicht zu lesen vermochte.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich und Panik griff nach ihr, als sie bemerkte, dass nicht nur er sie musterte. Die Aufmerksamkeit des ganzen Dorfes richtete sich auf sie.

Zögerlich schielte sie zu ihrem Schatten, darauf gefasst, dass sie sich verraten hatte. Aber er bildete nach wie vor ihre Umrisse ab und bewegte sich kein bisschen.

Womit hatte sie dann das Interesse des Prinzen geweckt?

„Euer Schatten“, sagte er mit melodisch warmer Stimme, in der nicht der geringste Hauch von Anfeindung mitschwang. Seine ebenmäßigen Züge verrieten lediglich Neugierde.

Nela schaute erneut über ihre Schulter. Nach wie vor konnte sie nichts Absonderliches erkennen. „Was ist mit ihm?“

„Weshalb ist er nicht vor mir geflüchtet?“

Nela betrachtete die anderen Bewohner und stellte fest, dass selbst die Lichtwesen um sie herum keinen Schatten warfen. Sie alle waren weg! Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Mit dem Prinzen, dessen Lichte die Schatten vertreibt. Sie hatte angenommen, mit diesem Teil der Prophezeiung wäre sinnbildlich die Dunkelheit am Himmel gemeint, die er jeden Tag aufs Neue zurückdrängte. Aber nein, er vertrieb alle Schatten, die ihn umgaben.

„Ich … Ich weiß es nicht“, stotterte sie, weil ihr auf die Schnelle keine gute Erklärung einfiel. Seit sie klein war, hing ihr Leben davon ab, dass sie ihren Schatten beherrschte und er ihr im Licht nicht entwischte. Jetzt wurde ihr dieses Können anscheinend zum Verhängnis. 

Der Prinz stieg von seinem Pferd.

Zwei königliche Wächter saßen ebenfalls ab und schlossen zu ihnen auf.

Nela wich zurück, mahnte sich im Stillen und straffte ihre Schultern. Sie durfte keine Angst zeigen. „Was wollt Ihr von mir?“ 

Er hob die Augenbrauen. „Nur reden.“

Sie schielte zu den Wachen. So recht konnte sie das nicht glauben.

Prinz Liron folgte ihrem Blick und drehte sich zu seinen Wächtern um. „Kehrt zurück zu Euren Pferden.“ Mit der Selbstverständlichkeit, dass sie seinem Befehl folgen würden, wandte er sich gleich wieder ihr zu. „Wie heißt Ihr?“ 

Die Stille rauschte in ihren Ohren, sogar die Vögel schienen ihren Gesang unterbrochen zu haben, um dem Gespräch zu lauschen. Sie schluckte hart. „Seraphine.“

Den Prinzen umgab eine Wärme, als wäre er die Sonne selbst, und Nela fiel es immer schwerer, ihren Schatten bei sich zu halten. Dann fiel ihr ein, dass sie das ja gar nicht musste. Sie hatte seine Aufmerksamkeit erregt, weil er nicht verschwand. Womöglich würde der Prinz sie in Ruhe lassen, wenn er wie bei allen anderen davon flog. Kurzentschlossen ließ sie ihn ziehen und schnell wie der Wind huschte er über den Boden davon.

Das Lächeln, das das ganze Gesicht des Prinzen in Beschlag nahm, legte zwei Grübchen frei. Mit seinen funkelnden Augen und seinem goldgelockten Haar wirkte er eher wie ein Junge, der Schabernack im Sinn hatte, denn wie der künftige Herrscher des Landes. „Jetzt ist er doch geflüchtet.“

Bei seinem unbedarften Tonfall fiel die Anspannung von ihr ab, so als könnte seine Magie die Schatten auf ihrer Seele ebenfalls vertreiben. Nela ermahnte sich aber sogleich zur Vorsicht. Mit jeder Bewegung konnte sie sich verraten, mit jedem Wort, ja, sogar mit jedem zu raschen Atemzug.

 „Warum überrascht Euch das? Ihr seid doch der Prinz, dessen Lichte die Schatten vertreibt.“ Wenn sie so tat, als wäre gar nichts Außergewöhnliches geschehen, würde er vielleicht das Interesse verlieren.

„Das bin ich. Aber wer seid Ihr, deren Schatten sich meiner Wirkung widersetzt?“ Er legte den Kopf schief und betrachtete ihr Gesicht, als müsste er nur lange genug darin lesen, um auf die Antwort zu stoßen.

Sie streckte ihren Rücken durch. „Eine einfache Blumenfee, die als Heilerin arbeitet.“

„Sohn, wir haben noch einen weiten Weg vor uns“, mahnte der König.

Der Prinz drehte sich nicht einmal zu ihm um. „Seid Ihr so furchtlos wie Euer Schatten?“ Eine Herausforderung lag in seiner Miene.

Nela war nicht so dumm, sie anzunehmen. „Nein, in dieser Hinsicht muss ich Euch enttäuschen.“

Seine Mundwinkel zuckten. „Es fällt mir schwer, das zu glauben.“

„Liron!“, rief sein Vater. 

Der Prinz griff nach ihrer Hand und ihre Magie drängte auf wundersame Weise zu ihm. Mit aller Kraft hielt sie sie zurück und beobachtete, wie er einen Kuss auf ihrem Knöchel andeutete. Sie war nicht wie die anderen Frauen, die bei der bloßen Erwähnung des Prinzen in Schwärmereien verfielen. Als sein Atem jedoch ihre Haut streifte, er aufsah und ihm die goldblonden Haare in die schelmisch blitzenden Augen fielen, wurden zu ihrer Schande auch ihre Knie weich.

Er war schön.

So schön, dass sie beinahe vergaß, in welcher Gefahr sie schwebte.

„Ich muss gehen. Wir werden uns wiedersehen.“ 

Sie senkte das Kinn und tat einen Knicks. Erst jetzt bemerkte sie, wie harsch sie ihm eingangs begegnet war. Eigentlich wäre eine unterwürfige Haltung angebracht gewesen. Demnach bemühte sie sich, zumindest zur Verabschiedung einen freundlichen Tonfall anzuschlagen. „Ich wünsche Euch eine gute Weiterreise, Eure Hoheit.“

„Bis bald.“ Er nickte ihr langsam zu, dann lief er derart gelassen zu seinem Pferd, als hätte der König ihn nicht bereits zweimal zur Eile ermahnt.

Bis bald. Nelas Herz hüpfte und fiel tief hinab. Anstatt sich geschmeichelt zu fühlen, sollte sie sich fragen, warum er vorhatte, sie wiederzusehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wollte er bei einem weiteren Treffen ergründen, weshalb ihr Schatten in seinem Licht verweilt war. Ihr blieb zu hoffen, dass er das einfach dahingesagt hatte und sie rasch vergaß. 

Während sich der Thronfolger entfernte, achtete sie ganz genau auf die Umstehenden. Sie durfte auf keinen Fall den Zeitpunkt verpassen, an dem die Wirkung des Prinzen nachließ. Also streckte sie ihre Magie schon einmal nach ihrem Schatten aus und fand ihn hinter dem nächsten Haus.

Mit einer fließenden Bewegung saß der Prinz auf und trieb mit einem Schnalzen sein Pferd an.

Als der Tross die Dorfgrenze passierte, kehrten die Schatten der Leute aus ihren Verstecken zurück. Ihren an seinen Platz zu zwingen, kostete Nela sehr viel Kraft, da die Mittagssonne in aller Stärke schien. Zum Glück schloss er rechtzeitig zu ihr auf – unter den Argusaugen der Dorfbewohner.

Ihre Zieheltern hatten recht gehabt, sie hätte fortbleiben sollen. Jetzt hatte sie weitere Aufmerksamkeit auf sich gezogen und die Leute würden von diesem Tag an noch genauer hinsehen. Also musste sie diesen Ort hinter sich lassen, denn sie zogen stets um, bevor ein Bewohner die Garde rief und es zu spät wäre. Ein neuer Wohnort, ein neuer Name, ein neues Leben … und hoffentlich ein wenig mehr Glück.

„Grüßt den Tag“, sagte sie laut, raffte ihre Röcke und steuerte den Wald an. Nela musste an sich halten, nicht zu hasten, und schritt erhobenen Hauptes durch die belebte Straße. Keiner sprach sie an, doch die Blicke der Dörfler zwickten wie Insektenstiche auf ihrer Haut. Sie wünschte sich die Dunkelheit zurück, aber nicht eine Wolke schmälerte die Kraft der Sonne.

Kaum tauchte sie in den lichtdurchfluteten Wald ein, ließ sie ihren Schatten ziehen und rannte, als könnte sie so ihrem Leben entfliehen. Je weiter sie sich vom Dorf entfernte, desto unwirklicher fühlte sich das Gespräch mit dem Prinzen an, die Konsequenzen ihres Handelns würden sie aber sicher bald einholen.

Mit rasselndem Atem lehnte sie sich nahe ihrer Hütte gegen eine Eiche und erlaubte ihren Gedanken, zurückzuwandern.

Der Prinz hatte eine beneidenswerte Leichtigkeit ausgestrahlt. Dabei lastete die Zukunft des Landes auf seinen Schultern.

Ein Knacken im Unterholz riss sie aus ihren Gedanken. Sie fuhr herum und schnappte nach Luft.

Offenbar hatte Prinz Liron sein ‚Bis bald‘ ernst gemeint.


 

Kapitel 2

 

Aus Gewohnheit wollte sie nach ihrem Schatten rufen und hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück.

Mit zielstrebigen Schritten kam der Prinz auf sie zu. Selbst im Wald, wo ihn die Sonne nicht erreichte, überzog ein goldgelber Schimmer seine Haut. „Fräulein Seraphine.“

Sie knickste und senkte das Kinn, um wenigstens bei ihrer zweiten Begegnung alles richtig zu machen. „Was verschlägt Euch in diese einsame Ecke?“

„Ich habe Euch gesucht. Im Dorf wies man mir die Richtung zu Eurem Haus.“

„Drängte Euer Vater nicht weiter?“

„Er hatte einen kleinen Schwächeanfall und muss sich kurz ausruhen. Das Vertreiben der Schatten kostet ihn immer mehr Kraft.“

Nela unterdrückte ein Seufzen. „Was kann ich für Euch tun?“

„Ich habe mich an der Hand verletzt. Und da Ihr eine Heilerin seid, habe ich gehofft, Ihr könntet mir helfen.“

„Wie ist das passiert?“ Sie suchte nach etwas wie Argwohn in seinem Blick, wurde jedoch nicht fündig. Dabei bewunderte sie seine außergewöhnlichen Augen. Sie erinnerten an eine Sonnenfinsternis bei stahlblauem Himmel. Seine Pupillen waren von goldenen Schlieren umgeben, wie Sonnenstrahlen, die hinter dem Dunkel hervorbrachen.

„Ich bin gestürzt. Seht selbst.“ Er überbrückte den letzten Abstand zwischen ihnen und wie zuvor im Dorf ging eine angenehme Wärme von ihm aus. Sein Duft stieg ihr in die Nase, frisch wie die Natur nach einem Sommerregen.

Ihre Magie strebte erneut zu ihm, wollte aus ihr hervorbrechen, um ihm näher zu sein. Nela verstand nicht, warum das so war, doch sie hielt sie auch dieses Mal zurück und drückte sich derart fest an den Baum, dass die Rinde in ihren Rücken schnitt. Vorsichtig nahm sie die ihr dargereichte Hand. Als sie seine gepflegten Finger berührte, zirkulierte dunkle Magie durch ihren Körper und drängte stärker nach außen. Nela ignorierte dieses Gefühl, während sie die Beweglichkeit seines geschwollenen Gelenks überprüfte. Sie versuchte, seine Hand nüchtern zu betrachten, als wäre er ein ganz gewöhnlicher Patient. Dennoch schlich sich der Gedanke in ihren Kopf, wie weich seine Haut war – abgesehen von den Handballen, die von regelmäßigem Schwertkampf zeugten. 

„Es ist nichts gebrochen.“ Außerdem wirkte die Verletzung bereits älter, wie sie mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm. „Habt Ihr Schmerzen?“ Sie hob den Blick und begegnete dem seinen.

„Die schlimmstmöglichen.“ Er sah aus wie ein Dieb, der ihr ein Lächeln entlocken und es dann stehlen wollte.

Wider Willen musste sie schmunzeln. Erneut fiel ihr auf, wie leicht sie sich in seiner Gegenwart fühlte, obwohl sie eigentlich voller Sorge sein sollte. Vielleicht lag es daran, dass sie bei ihm nicht krampfhaft an ihrem Schatten festhalten musste. Oder es lag einfach an ihm.

„Und? Ist die Hand noch zu retten?“, hakte er unbekümmert nach.

Mit Kräutern und Blüten hätte sie ihm problemlos helfen können. Und natürlich war sie genauso imstande, ihn mit ihrer schwarzen Magie zu heilen, das war aber zu riskant. „Ich weiß nicht, ob ich die Richtige bin, um diese Verletzung zu behandeln.“

Seine Mundwinkel zuckten. „Ihr könntet es zumindest versuchen.“

„Ich werde Euch die Bestandteile einer Tinktur nennen. Die kann Euch einer Eurer Diener Euch besorgen“, erwiderte sie mit fester Stimme und um einen unbedarften Klang bemüht.

„Warum setzt Ihr nicht Eure Magie ein?“ 

Nela seufzte. Würde sie versuchen sich herauszureden, würde sie das verdächtig machen. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Macht die Augen zu und konzentriert Euch auf Eure Magie.“ 

Eine solche Aufforderung war üblich bei Sonnenheilern, denn bei ihren Heilmethoden mussten die Patienten ihre Magie mit aller Kraft bündeln – was mit geschlossenen Augen besser funktionierte. Dieser Umstand kam ihr oft zugute.

„Natürlich.“ 

Mit Sorge beäugte sie, wie der Schalk über sein Gesicht huschte. Sie betete, dass er ihre Anweisung ernst nahm.

„Dann hoffe ich, dass Ihr keine Nachtfee seid, die dunkle Magie wirkt, anstatt mich zu heilen“, scherzte er.

Nela versteifte sich. Würde er sehen, dass ihre Magie schwarz war, würde er sofort nach seinen Wachen rufen. „Ich kann Eure Bedenken nachvollziehen. Ihr seid der Prinz und dürft einer Fremden nicht vorbehaltlos vertrauen“, sagte sie schnell. „Ich gebe Euch die Rezeptur für eine Salbe. Könnt Ihr …“

„Ich gehorche ja schon“, unterbrach der Prinz sie und schloss die Lider.

Nela zwang sich zur Ruhe. „Ich kann nur wirken, wenn Ihr Euch voll und ganz auf die Magie in Eurem Inneren konzentriert. Versprecht Ihr mir, Euer Bestes zu geben?“ So würde er weniger mitbekommen, was um ihn herum geschah.

Er legte sich die unverletzte Hand auf die Brust. „Ich verspreche es.“

„Da Ihr als Elf nicht lügen könnt, glaube ich Euch.“

„Habt Ihr etwa an meiner Aufrichtigkeit gezweifelt?“

„Eher an Eurer Ernsthaftigkeit.“

„Ihr habt mich schnell durchschaut.“ Ein leises Lachen ließ seinen Brustkorb hüpfen und versiegte sogleich, als sie mit ihrer zweiten Hand über sein geschwollenes Gelenk strich.

Behutsam beschwor sie ihre Magie herauf und obwohl der Prinz wie versprochen nicht linste, hielt sie die schwarzen Schemen unter ihrer Handfläche verborgen, anstatt sie frei über seine Haut fließen zu lassen. Langsam drang ihre Magie in sein Handgelenk und Nela spürte ihr nach. Sie hatte eine solche Behandlung schon oft durchgeführt und demnach Übung darin, die Wärme zu suchen und die Entzündung zu lindern. Dieses Mal fiel es ihr allerdings schwerer, sich zu konzentrieren.

„Eure Magie fühlte sich irgendwie anders an“, flüsterte der Prinz in die Stille hinein.

Nela hielt den Atem an.

Ja, die Magie von Licht- und Nachtwesen war verschieden. Die eine war hell und bunt, die andere schwarz, die eine zerstreute sich wie die Farben im Licht, wohingegen die ihre auf einen Punkt hin gebündelt werden konnte. Bislang hatte das jedoch niemand mit geschlossenen Augen bemerkt. Wenn ein solch strahlendes Licht wie das seine auf ihre tiefe Dunkelheit traf, war es aber kaum verwunderlich, dass er den Unterschied bemerkte.

Nela atmete aus, ließ weitere Magie in sein Gelenk fließen, um die Entzündung mit einer lindernden Kühle zu überziehen, dann gab sie seine Hand frei. „Es sollte jetzt besser sein.“

Der Prinz hob die Lider und drehte prüfend sein Handgelenk. „Ihr seid eine wahrhaft begnadete Heilerin.“

„Vielen Dank.“ Nela wurde nie rot, jetzt spürte sie jedoch, wie sich ihre Wangen erhitzten. „Jetzt könnt Ihr wieder zu Eurem Vater aufschließen.“

„Er rastet vor dem nächsten Dorf.“

„Stimmt es, was der König …“ Sie verstummte, denn es ging sie nichts an.

„Dass er altersschwach geworden ist? Ja. Er ist ständig erschöpft und des Regierens überdrüssig.“ Traurigkeit huschte über seine Züge, ehe sie einem Ausdruck wich, der fern an Trotz erinnerte. „Dass mein Amtsantritt kurz bevorsteht? Nein. Dafür muss ich erst heiraten. Sobald meinem Vater die Kräfte schwinden, wird meine Mutter regieren, bis die Hochzeit stattgefunden hat. Allzu viel Zeit darf ich mir aber nicht mehr lassen.“

Nela kämpfte mit sich. Sie sollte zusehen, dass sie von hier wegkam. Nicht, dass sie sich doch noch verriet. Allerdings hatte sie ihn sogar heilen können, ohne dass er Verdacht geschöpft hatte. Letztlich siegte ihre Neugier. „Ist Euer Amtsantritt aufgrund der Prophezeiung an eine Heirat geknüpft?“ 

Aller Schalk verschwand aus seiner Miene und er zögerte sichtlich mit seiner Antwort.

Mit dem Prinzen, dessen Lichte die Schatten vertreibt, entscheidet sich, ob der Tag erwacht. Sein Treueschwur mit dem hellsten Licht und sein Hof mit einer großen Liebe geweiht, 

bringen Tag und Nacht ins Gleichgewicht und bannen die lange Dunkelheit. So sagte es die Prophezeiung. Nur er konnte den Tag retten, indem er heiratete. Denn dem angehenden König schworen viele mit einem Handkuss die Treue, seine Dienerschaft, seine Ritter, seine Familie, er selbst schenkte hingegen ausschließlich einer Person die Treue: seiner Königin, bei der Hochzeit, mit einem Kuss auf die Lippen. Es musste eine mächtige Sonnenelfe sein, die mit dem hellsten Licht des Landes. Und da ein gegenseitiger Schwur unter Elfen ihre Kräfte verstärkte, könnten sie danach gemeinsam gegen Casée bestehen und ihre Schatten für immer aus dem Tag verbannen.

„Ja“, sagte er letztlich. „Meine Mutter müsste eine Heirat aber nicht zur Bedingung für meine Krönung machen. Ich möchte meiner Verpflichtung auch so nachkommen. Mir ist es Grund genug, dass das Land unter der Dunkelheit leidet.“

Nela musterte ihn aufmerksam. „Dennoch ist es sicher nicht leicht, das Wohl der anderen über sein eigenes zu stellen.“ Sie wusste selbst zu gut, wie sich das anfühlte.

Der Prinz lächelte schwach. „Ich könnte getrost auf den Thron verzichten. Allerdings gibt es wahrlich schlimmere Dinge, als König zu sein und eine Ehe mit dem hellsten Licht des Landes einzugehen.“

„Dann hoffe ich für unser Land, dass Ihr ihr schnell begegnet.“

Er stieß ein kurzes Lachen aus. „Ja, das wäre in der Tat gut. Andernfalls könnte ich mir höchstens Zeit erkaufen, indem ich die Nachtbringerin aufspüre und ein für alle Mal davon abhalte, die ewige Nacht einzuläuten.“

„Wie meint Ihr das?“, fragte sie schnell. Viel zu schnell!

Der Prinz runzelte die Stirn. „Ihr kennt die Prophezeiung nicht? Nur die Fee, deren Schatten vor dem Lichte flieht und deren Dunkelheit selbst vor der Sonne steht, entscheidet, ob die ewige Nacht einzieht und der Sonnenhof mit dem Tage untergeht“, zitierte er die ersten Verse.

Natürlich kannte sie diese verdammten Worte auswendig. Vermutlich besser als irgendwer sonst. Sie bestimmten ihr ganzes Leben, denn wo der Schatten anderer dunkler Wesen im Licht lediglich zitterte, war sie die Einzige, deren Schatten vor dem Licht floh. Sie und niemand sonst war die Nachtbringerin.

„Ach, ja. Natürlich.“ Sie lachte auf und versuchte, etwas Berechnendes aus seiner Miene herauszulesen. Nach wie vor verriet seine Miene nichts als Freundlichkeit. 

Wie sollte er aber auch ahnen, dass sie die Nachtbringerin war? Die Prophezeiung sprach von einer Fee, deren Schatten vor dem Lichte floh. Und ihr Schatten war heute dank jahrelanger Übung im Licht geblieben, während alle anderen verschwunden waren. Das machte sie auffällig, lenkte jedoch keinen Verdacht auf ihre wahre Identität.

„Wisst Ihr inzwischen mehr über diese dunkle Fee?“, hakte sie vorsichtig nach, während weitere Fragen durch ihren Kopf rasten. Was würde er tun, wenn er wüsste, dass er diese Fee gerade vor seiner Nase hatte? Wie gedachte er, sie ein für alle Mal davon abzuhalten, die ewige Nacht einzuläuten? Sie gefangen nehmen? Sie gleich umbringen? Seine Worte hatten auf jeden Fall deutlich gemacht, wie er zu ihr stand: Sie waren keine Verbündeten, weil ihrer beider Leben an ein und dieselbe Prophezeiung geknüpft war. Sie waren Feinde.

 Der Prinz zuckte mit den Schultern. „Wir erhalten regelmäßig Hinweise. Nicht selten rückt die königliche Garde aus, jedoch waren die Vorwürfe bisher entweder haltlos oder die Verdächtige ist uns entwischt. Glücklicherweise hat Casée sie ebenfalls nicht gefunden, sonst hätte sie diesen Trumpf längst ausgespielt. Mit etwas Glück bleibt das so.“

Ja, Nela versteckte sich sowohl vor dem Sonnenhof als auch vor der dunklen Feenkönigin. Sie tat alles, um sich im Verborgenen zu halten – abgesehen von dem Anflug von Leichtsinn, der zu diesem Gespräch geführt hatte. Dieser Gedanke erinnerte sie daran, dass sie lieber von hier verschwinden sollte, anstatt den Prinzen weiter auszuhorchen. „Ich muss allmählich los, denn ich habe einige Hausbesuche vor mir, ehe es dunkel wird.“

Der Prinz fuhr sich durch die Haare, sodass sie völlig zerzausten und seine spitzen Ohren herauslugten. „Meint ihr …“ Er räusperte sich. „Was würdet Ihr davon halten, wenn ich Euch eine Stelle als Heilerin am Sonnenhof anbiete?“

„Weshalb?“, platzte es aus ihr heraus. „Ihr verfügt über die besten Heiler des Landes“, brachte sie ruhiger hervor.

Es stand außer Frage, dass sie dieses Angebot ablehnen musste. Vermutlich würde sie am Sonnenhof binnen weniger Tage auffliegen. Die Frage war, warum Prinz Liron es ihr unterbreitete, ja, warum er ihr überhaupt gefolgt war. Wider Erwarten hatte er nicht noch einmal nachgefragt, wie es kam, dass ihr Schatten nicht vor ihm geflüchtet war. Allein damit hatte sie doch erst seine Aufmerksamkeit erregt.

„Keiner von ihnen war in der Lage, mein Handgelenk so gut zu versorgen.“ Er lächelte und zeigte dabei wieder seine Grübchen. 

„Ach, dann ist die Verletzung bereits älter?“, fragte sie und versuchte, möglichst unschuldig zu klingen.

„Ertappt.“ Prinz Liron zuckte mit den Achseln. „Und? Was sagt Ihr? Nehmt Ihr den Posten an?“

„Es tut mir leid, das ist nicht möglich.“

Er runzelte die Stirn. Ganz offensichtlich war er ein Nein nicht gewöhnt. „Verratet Ihr mir auch, weshalb?“

Fieberhaft suchte sie nach einer Ausrede, die er akzeptieren würde. 

Laute Rufe und dumpfe Hufschläge auf dem Waldboden enthoben sie jedoch einer Antwort.

Der Prinz drehte sich in die Richtung, aus der die Geräusche drangen, dann wandte er sich erneut ihr zu. „Wir müssen weiterziehen. Ich werde in ein paar Tagen zurückkehren.“

Dieses Mal glaubte sie ihm. Er würde sie aber nicht antreffen. Sie und ihre Familie waren daran gewöhnt, in Eile aufzubrechen. „Meine Antwort wird die gleiche sein.“

„Das werden wir ja sehen.“ Er zwinkerte, machte auf dem Absatz kehrt und rannte in die Richtung, aus der er gekommen war.

Nela schaute ihm hinterher, bis der Wald ihn verschluckte.